© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/20 / 23. Oktober 2020

Angriff auf die Würde
Sterbehilfe: Der Schatten einer Kultur des Todes in Europa wird länger
Jürgen Liminski

Schlimmer als der Tod ist die Kultur des Todes. Sie ist nicht nur die Summe des Sterbens vieler Einzelpersonen. Oder die Summe von Maßnahmen und Gesetzen, die zum Tod von Menschen führen, etwa Abtreibung oder aktive Sterbehilfe. Sie ist deshalb schlimmer, weil sie das unantastbare Gut des Menschen, seine Würde, mißachtet. Damit ist sie ein Angriff auf die Humanität.

Solchen Angriffen ist die Würde des Menschen in Europa seit Jahren ausgesetzt. Vor allem in Belgien und in den Niederlanden, neuerdings aber auch in Spanien und Frankreich sind die Angriffe heftig, und nicht zu vergessen Deutschland mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar dieses Jahres, das den Weg für die aktive Sterbehilfe ebnete. Der Gesetzgeber müsse nur „sicherstellen“, so in Karlsruhe die obersten Vertreter der dreittenGewalt, „daß dem Recht des Einzelnen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden, hinreichend Raum zur Entfaltung und Umsetzung verbleibt“. Die Niederlande zeigen nun, wohin solche Wege führen. Dort soll jetzt die Sterbehilfe auch für Kinder unter 12 Jahren legalisiert werden.

Theo Boer, ein Experte in Bioethik, der die Euthanasie-Gesetze in Holland zunächst zustimmend begleitete, dann aber zu anderen Einsichten gelangte, beschrieb die Eskalationsleiter zur Euthanasie in einem Interview einmal so: Zunächst wird das Argument vorgebracht, daß die aktive Sterbehilfe eine schreckliche Agonie auf dem Sterbebett abkürze. Dann überläßt man es dem Patienten zu definieren, was für ihn ein schreckliches und schmerzhaftes Sterben sei. Der nächste Schritt sei die Definition des Patienten, ob er sinnlos weiterleben und von der Pflege anderer, fremder Personen abhängig sein wolle. Als vierter Schritt ist das Todesurteil auch für jüngere Menschen durch Angehörige mit „Vorsorgevollmacht“ nur logisch und später auch durch Nicht-Angehörige. In diesem Stadium sind die Niederlande und das kommt auch auf Deutschland zu. Denn die Würde, nach Artikel 1 des Grundgesetzes unantastbar, ist längst mit Füßen getreten.

Der Katholik Heinrich Böll, nicht gerade ein Freund seiner Kirche, hat 1957 geschrieben: „Die schlechteste christliche Gesellschaft ziehe ich noch tausendmal der besten heidnischen Gesellschaft vor. Denn in keiner wirklich heidnischen Gesellschaft hat es jemals Platz gegeben für Waisenkinder, psychisch Kranke, Arme und Behinderte.“ Denn diese Schwachen und für manche Nichtgläubige unnützen Menschen würden in einer christlichen Welt mehr als physischen Platz finden, nämlich Liebe.

Heilbringender Sinn des Leidens

Die Liebe macht den Kulturunterschied aus. Wer den Tod nur als Ende des Leidens begreift, ohne den nach christlicher Auffassung heilbringenden Sinn des Leidens und die in ihr verborgene Hoffnung auf ein besseres Leben (an-)zu erkennen, für den bleibt nur die Nacht der Verzweiflung. Diese Hoffnung zu leben und in ihr zu sterben, das macht einen Teil der Würde des Menschen aus. Die Sozialingenieure in Den Haag, Brüssel oder Berlin verbrämen gern das Töten mit Vokabeln vom Leben. Diese Gesellschaft hat verlernt, Leben, Leiden und Leidenschaft zu meistern. Über der Seele Europas liegt der Schatten des Nihilismus und Utilitarismus. Die aktive Sterbehilfe steht dafür ebenso wie die Abtreibung. Und die Kirchen sind in ihrer Nabelschau wie gelähmt.

Dabei geht es um den Wesenskern des Menschen, die Personhaftigkeit, Christen würden sagen die Gottesebenbildlichkeit. Der Priester und Jugendseelsorger Romano Guardini (1885–1968) hat schon kurz nach dem Krieg diesen Kern definiert und geradezu prophetisch auf seine Bedeutung hingewiesen: „Person ist die Fähigkeit zum Selbstbesitz und zur Selbst-Verantwortung; zum Leben in der Wahrheit und in der sittlichen Ordnung. Sie ist nicht psychologischer, sondern existentieller Natur. Grundsätzlich hängt sie weder am Alter noch am körperlich-seelischen Zustand, noch an der Begabung, sondern an der geistigen Seele, die in jedem Menschen ist. Die Personalität kann unbewußt sein, wie beim Schlafenden; trotzdem ist sie da und muß geachtet werden. Sie kann unentfaltet sein wie beim Kinde; trotzdem beansprucht sie bereits den sittlichen Schutz. Es ist sogar möglich, daß sie überhaupt nicht in den Akt tritt, weil die physisch-psychischen Voraussetzungen dafür fehlen wie beim Geisteskranken oder Idioten. Dadurch aber unterscheidet sich der gesittete Mensch vom Barbaren, daß er sie auch in dieser Verhüllung achtet. Diese Personalität gibt dem Menschen seine Würde. (…) Die Achtung vor dem Menschen als Person gehört zu den Forderungen, die nicht diskutiert werden dürfen. Die Würde, aber auch die Wohlfahrt, ja endgültigerweise der Bestand der Menschheit hängen davon ab, daß das nicht geschehe. Wird sie, die Würde, in Frage gestellt, gleitet alles in die Barbarei.“

Familie oder Freunde in der letzten Stunde

Sie wurde und wird fortwährend in Frage gestellt, jetzt wieder in den Niederlanden. Barbarei ist, faßt man Guardini und Böll zusammen, ein anderes Wort für Kultur des Todes. Wie aber kann man der Kälte einer von dieser Kultur erfaßten Gesellschaft entgehen? Unheilbar Leidenden vom heilbringenden Sinn des Leidens zu erzählen, atmet den Hauch gnadenloser Kälte. Sinnvoller ist es, Wege zur Schmerzlinderung zu finden.

Der frühere Bundespräsident Johannes Rau hat in einer Grundsatzrede über Sterbehilfe im Mai 2001 genau diesen Weg aufgezeigt. Die Unterscheidung zwischen „lebenswert und lebensunwert“ führe auf eine, so Rau, „inakzeptable abwärtsführende Bahn ohne Halt“. Er hätte auch sagen können: in die Kultur des Todes. Er plädierte dafür, anstelle der aktiven Sterbehilfe sich mehr der Schmerztherapie zu widmen. Wörtlich: „Wir brauchen einen anderen Umgang mit dem Sterben und dem Tod. Wir müssen wieder lernen: Es gibt viele Möglichkeiten, sterbenskranken Menschen beizustehen, sie zu trösten und ihnen zu helfen (…) Wir können und wir müssen viel mehr als bisher für die Schmerztherapie tun.“  

Die Erfahrungen in Holland und Belgien zeigen, daß die tödliche Selbstbestimmung über kurz oder lang zum gesellschaftlich diktierten Suizid und schließlich Töten durch andere führt. Wohl dem, der auch in der letzten Stunde Freunde oder gar eine Familie hat. Denn sie ist der Raum der ersten Geborgenheit, ein Ort der Liebe. In ihr ist die Kultur des Lebens zu Hause.