© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/20 / 23. Oktober 2020

Dorn im Auge
Christian Dorn

Anhaltende Proteste in Weißrußland in der Tagesschau – unwillkürlich, und doch unwirklich im selben Augenblick die Erinnerung an die Minsk-Reise unserer Abiturklasse der EOS „Bertolt Brecht“ in Halberstadt Anfang 1989, als ich mir morgens in der nächstgelegenen Hotellobby die Neue Zürcher Zeitung kaufte, die ich dann während unserer Busfahrt las, so wie die Begleiter – unser Klassenlehrer und der Vater einer Mitschülerin – den Spiegel oder die F.A.Z. Als hätte ich damals schon das Gespür für das „neue Westfernsehen“ gehabt; tatsächlich war die NZZ der Ladenhüter, alle anderen deutschsprachigen Zeitungen des Westens waren bereits verkauft. Der einzige Artikel, an den ich mich erinnere, ist ein Feuilleton-Beitrag über die vermeintliche subversive Kultur des New oder Dark Wave, die – da längst Teil der kapitalistischen Verwertungskette – ihr Attribut längst eingebüßt habe. Joy Division ade, Joystick Vision olé! 


Dennoch: Der andauernde Zustand des Corona-Maßnahmestaates versetzt mich immer mehr in ein Kommunikationsbedürfnis wie in der Spätphase der DDR, als wäre ich gar nicht älter geworden. Der aus Kanada stammende Inhaber des Ladengeschäfts mit Retro-T-Shirts, den ich sinnfrei – wir beide ohne Maske –  mit „Let’s praise Goddess Corona“ begrüße, fragt mich daraufhin, ob ich schon die neueste These für den Regenbogen kennen würde, und erklärt: „If you see a rainbow in the sky, then God has just gay sex.“ Nebenan, wo die Schwulenbar residiert, ist ebenfalls eine sexpositive Einstellung Programm, prangt dort doch ein handbeschriftetes Schild mit der Botschaft: „Fuck AfD!“ Aber Gott ist viel größer, wie der islamistische Halsabschneider bei Paris demonstriert. Da sage ich doch mal – frei nach dem Hollywood-Vorbild „Downsizing – Inch Allah!“


Um die Ecke entdeckt ein junges Paar vor dem linksalternativen Hausprojekt „Ausland“ das Schild „Eltern haften für ihre Kinder“ und kriegt sich gar nicht mehr ein vor Belustigung – ich denk an das inzwischen ikonographische Bild Aylan Kurdis, dem Merkels Mantra („Wir schaffen das“) nicht geholfen hat. Auch Sarrazin war bekanntlich „nicht hilfreich“. Ganz anders dagegen, etwa an der Münchner Hotelrezeption, ist bei einem offiziell verhängten „Beherbungsverbot“ der Verweis auf den Paragraph 14, Absatz 2, Satz 5 des 7. Bayerischen Infektionsschutzgesetzes vom 1. Oktober 2020: Demnach ist von dem Übernachtungsverbot derjenige nicht betroffen, dessen Aufenthalt „berufsbedingt“ und „unaufschieblich“ ist.