© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/20 / 23. Oktober 2020

Die Angst vor dem freien Geist
Staatlichkeit: Erst eine Trennung von Öffentlich und Privat ermöglicht eine bürgerliche Ordnung
Eberhard Straub

Zu den lange anerkannten Übereinkünften in Europa gehörte es, den Staat in seinen Schranken zu halten. Denn die beiden entscheidenden Mächte, welche das sittliche Leben bestimmen, der göttliche Geist und der individuelle Menschengeist, sind, um mit dem großen Liberalen Johann Caspar Bluntschli zu reden, außerhalb des Staatsbereiches. Das Reich der Sittlichkeit ist viel umfassender als das des Staates. Auf der begrenzten Wirksamkeit des Rechtsstaates beruhte die Trennung von Öffentlich und Privat, die überhaupt erst die bürgerliche Freiheit ermöglichte. Der Staat setzt eine bürgerliche Ordnung, einen Rahmen für die gar nicht leicht zu überschauende Bewegungsfreiheit und Werdelust aller möglichen Kräfte und Bestrebungen.

Was der einzelne über den Staat und seine Verfassung denkt, geht die Regierungen überhaupt nichts an, weil sie – woran Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert eindringlich erinnerte – gar nicht befugt sind, in das Innere des Staatsbürgers kontrollierend und reglementierend einzudringen. Sie müssen sich damit begnügen, daß jeder einzelne die Gesetze beachtet. Eine äußerliche Gegebenheit, wie die bürgerliche Ordnung, muß jedem einzelnen innere Vorbehalte zugestehen. Sonst würde er nicht dazu kommen, sich zum freien Menschen zu bilden, auf dessen sittliche Selbstbestimmung der Staat angewiesen ist. Die Privatheit als Sphäre der Freiheit verlieh dem Staat seine Würde, die höchste, ihn auszeichnende Würde, ein geschützter Raum der Freiheit zu sein, in dem jeder sicher ist, seine selbstgesetzten Ziele allein oder mit anderen zu verfolgen.

Der Staat soll von allen Übeln erlösen

Goethe hat die Privatheit, die gerade Deutschen so wichtig war, in seinen „Maximen und Reflexionen“ knapp umrissen: „Jeder, sei er auch, welcher er wolle, hat so sein eignes Fürsich, das er sich nicht gern möchte nehmen lassen.“ Das galt unabhängig von den Deutschen für alle liberalen Individualisten, für deren Humanität der Philosoph Max Stirner die einprägsame Formel gefunden hatte: „Der Einzige und sein Eigentum“. Jeder ist etwas Besonderes, Einmaliges und Unerschöpfliches. Deswegen sind „der“ Mensch und „die“ Menschheit substanzlose Redensarten. Goethe gab in diesem Sinne in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ zu bedenken: „Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt.“ Daher konnte für ihn der höchste Begriff des Menschen nur durch Vielseitigkeit, durch Liberalität erlangt werden.

Ihn und seine Zeitgenossen hätte der  erklärte Wille eines Kanzlers, die Zügel straff anzuziehen, um sich die zur Freiheit berufenen Menschen und Staatsbürger wie Pferde gefügig machen zu können, empört und an die Zeit der Schreckensherrschaft während der Französischen Revolution und an die totale Demokratie erinnert. Heute irritiert eine solche Ankündigung nicht weiter. Im Gegenteil, sie suggeriert entschlossenes Handeln, um allen zu verdeutlichen, daß keine Schlafmützen regieren und der Staat das gesamtgesellschaftliche Wohl im Auge behält. Während der Corona-Krise ermächtigen sich mit erstaunlicher Unbefangenheit Regierungen, Medien, Wissenschaftler und die systemrelevanten Einrichtungen, die sich als staatlich begreifen, dazu, das gesamte öffentliche und private Leben ihren Vorstellungen zu unterwerfen, es zu kontrollieren, zu reglementieren, zu beaufsichtigen und zu erfassen.

Unter nahezu einhelligem Beifall maßen sich in nachchristlicher Zeit die Herrschenden an, den Staat zu einer von allen Übeln erlösenden Heilanstalt zu erheben, die für geistige und körperliche Gesundheit zuständig ist und die früher göttliche Vorsehung umsichtig durch allumfassende Organisation ersetzt. Der Staat greift weit über seine Grenzen hinaus, was ihm früher verwehrt worden war. Wissen und Wissenschaft befähigen ihn, wie er meint, dazu, Entwicklungen vorherzusehen und auf die Art vorbereitet vorausschauend handeln zu können, also allwissend und allmächtig wie einst die göttliche Vorsehung fürsorglich oder strafend, auf jeden Fall planend heilsgeschichtlich tätig zu werden.

Im öffentlichen Interesse soll der Staat überall intervenieren und selbst in Privatsphären vordringen dürfen. Denn als pädagogische Einrichtung muß er Menschen hier in diesem Lande vor unzulänglichen Zeitgenossen schützen, die noch nicht zu ihrer wahren Bestimmung gefunden haben, einer für alle und alle für einen da zu sein, um gemeinsam Kraft aus der Freude zu ziehen, welche die Gemeinschaft dem schenkt, der sich ihr als Wohltäter hingibt und darüber zum wahren Glück aufrichtiger Demokraten im Wir und Miteinander findet.

Die fast religiös begriffene Communio, die Glaubens- und Lebensgemeinschaft der wahrhaften und wehrhaften Demokraten, die Körper und Seele gesund macht, hat freilich schon seit geraumer Zeit den nun moralisch hochgerüsteten Gemeinschaftstaumel  vorbereitet, in dem jeder auf die staatlichen Heilsbotschaften horchend im Gehorchen wunderbare Wonnen erfährt und befreit wird von Egoresten, die ihn einschränkten und von den anderen trennten.

In der Demokratie mit ihrem Drang, als Erzieher die Gleichheit der Lebensverhältnisse und damit auch des Denkens zu erreichen, war von vornherein die Tendenz angelegt, Freiheit und Recht nicht zu überschätzen, um der unbequemen Mannigfaltigkeit Herr zu werden und den Pluralismus, die lästige Vielfalt widersprüchlicher Willen in die fröhliche Einfalt eines gemeinsamen Wollens zu verwandeln. Dazu bedarf es der Bereitschaft zu harmonisierender und daher homogenisierender Integration und Assimilation, um der alleinseligmachenden Gnade in der demokratischen Erlösungsgemeinschaft teilhaftig zu werden und nicht ausgeschlossen zu bleiben wie einst verstockte Heiden, von dem, was alle treiben, weil dem Irrtum und der Lüge hörig, womit Verschwörer blenden und Unheil wirken.

Privatheit ist der Raum der Freiheit

Die Gleichheit als Forderung und nie zu stillende Hoffnung läßt Demokraten unweigerlich die vereinheitlichende Zentralisierung lieben, damit der Staat als Sozialstaat überall intervenieren kann, um für Ordnung zu sorgen, die rasch in Unordnung umschlagen kann, sobald sich Unterschiede auffällig bemerkbar machen. Ein leidenschaftlicher Freund der Freiheit, der Soziologe und Historiker Alexis de Tocqueville, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts gründlich darüber nachdachte, wie Demokratie und Freiheit miteinander zu vereinbaren seien, warnte daher die Demokraten, die Liebe zur Gleichheit nicht zu übertreiben, um die Freiheit und Privatheit nicht zu gefährden. Die Privatheit ist der Raum der Freiheit. Sie war deshalb für konsequente und wehrhafte Demokraten wie Danton und Robespierre, also für demokratische Terroristen, ein verdächtiger Raum. Denn dort verbergen sich Royalisten, Aristokraten, Katholiken, Feinde der Republik und demokratischer Rechtschaffenheit, also politisch unzuverlässige Menschen, denen es nicht erlaubt werden kann, sich auf Rechte zu berufen, denn sie verdienen es nicht, ein Mensch zu sein.

Die Grenzen sind verwischt worden

Die Republik muß sich schrecklich machen, um alle aus ihrer Privatheit und deren Schwächen zu befreien, sie muß erziehen, schulen und den Trägen auffordern, nicht weiter zu schweigen oder wegzusehen. Sie muß ihn dazu anhalten, den Nachbarn oder Kollegen genau zu beobachten und auf ihn zu hören, um den Hütern der Staatssicherheit und kampfbereiten Freunden der Wahrheit und der Einheit, denn die demokratische Wahrheit kann nur eine und die gleiche sein, Material zu übermitteln, Abweichler, endlich auf sie hörend, hörig zu machen. Hören, sich Gehör verschaffen, gehört werden und gehorchen, endlich hörig zu werden, das gehört alles zusammen. Deshalb zogen ja die radikalen Republikaner und Demokraten 1793/94 alles in die heilsame, weil alles heilende Öffentlichkeit, erfüllt vom Mißtrauen, ja vom Haß gegenüber allem Privaten, jedem Eigentum. Das blieb unvergessen im 19. Jahrhundert und vor allem unter den Freunden der Freiheit, die sich liberal nannten und immer darauf achteten, wie man die Demokraten im Namen der Freiheit und des Privaten davor bewahren könne, der Freiheit des einzelnen gefährlich und schrecklich zu werden.

Die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem sind in den nachliberalen Zeiten unserer Gegenwart nicht erst seit der radikalen Corona-Demokratie endgültig verwischt worden, also seit die Regierungen wieder wie ehedem in der Revolution sich als Wohlfahrtsauschüsse verstehen, die allein über Rezepte verfügen, das allgemeine Wohlbefinden wiederherstellen zu können, weil nur sie dazu imstande sind, die gesamtgesellschaftlichen Fragen lösen zu können.

Der Grundsatz eines aufrichtigen Demokraten: Ich habe nichts zu verbergen,  deshalb kann ich auch abgehört, kontrolliert oder registriert werden, ebnete dem Wahn der Regierenden, unfehlbar und für alles zuständig zu sein, den Weg. Selbstverständlich hat jeder Freie etwas zu verbergen, weil er auch als völlig braver Bürger ein Interesse daran haben sollte, daß seine Wohnung kein Bezirk ist, der jederzeit beliebiger Neugier geöffnet sein muß. Die einzelnen, die ihre Privatheit in die Öffentlichkeit trugen, aus welchen Gründen auch immer, erleichterten es der Öffentlichkeit – nicht nur dem Staat –, den privaten Raum zu besetzen und zu veröffentlichen. Was der einzelne ißt und trinkt, wie er sein Eheleben führt, seine Kinder erzieht, was er liest, wählt, denkt, glaubt oder nicht glaubt, ist nicht mehr seine ureigenste Angelegenheit, sondern eine öffentliche.

Die Öffentlichkeit, eine unbestimmte Übermacht, darf sich überall Zutritt verschaffen, weil ganz private Angelegenheiten skandalisiert oder interessant gemacht werden können. Ja, der einzelne  wird genötigt, sich zu veröffentlichen, sich zu outen und wildfremden Menschen auszuliefern, die meinen – etwa als Journalist – einen Anspruch darauf zu haben, als Lieferanten von Meinungen bei denen, die sich ihnen ausliefern oder ihnen einfach ausgeliefert sind, auch eine gebührende Aufmerksamkeit zu finden. Eine ganz private Laune, bevorzugte erotische Neigungen, wird zu einem massiven öffentlichen Thema. Wer Schwulen den Respekt verweigert, weil ihm deren Erwartungen gleichgültig sind, erregt öffentliches Ärgernis.Wer ein unbedingt öffentliches Bekenntnis, das seines Glaubens und seiner Zugehörigkeit zur Kirche, nicht als privat behandelt, erregt gleichfalls Ärgernis. Angeblich ist ein Glaubensbekenntnis, das zu allen Zeiten ein öffentlicher Akt war, jetzt eine unverbindliche, private Arabeske, angemessen in der Wohnküche oder in der Kirche als einem Club von Gleichgesinnten.

Politische Ansichten können überhaupt nicht privat sein, weil sie unter Umständen von den Gralshütern des Demokratismus als gefährlich denunziert werden. Theodor Heuss, ein Liberaler, sorgte dafür, daß ein badischer Antiliberaler, der Schriftsteller Reinhold Schneider, ein bekennender römischer Christ, ein bekennender Monarchist und Aristokrat in die Friedensklasse des Ordens Pour le mérite aufgenommen wurde. Ihn interessierte nicht die Gesinnung, sondern der freie Geist, auf den der Staat und die Öffentlichkeit angewiesen sind. Vor dem freien Geist hat man Angst in einem System, das die Zügel anzieht oder lockert, je nach seinem Interesse, aber ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse angeblich Freier, die dankbar sein sollen, wenigstens wie ein Tier, wie ein Pferd behandelt zu werden, das immerhin gesetzlich vor Tierquälerei geschützt ist.