© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/20 / 23. Oktober 2020

Bis zum bitteren Ende
Im Deutsch-Französischen Krieg folgten nach dem deutschen Sieg bei Sedan und dem Systemwechsel in Frankreich noch fast fünf Monate mit unerbittlichen Schlachten
Dag Krienen

Nach der Vernichtung der französischen „Châlons-Armee“ bei Sedan (JF 36/20) und der Einschließung der „Rheinarmee“ in Metz war das französische Feldheer bis auf geringe Reste ausgeschaltet. Nach den überlieferten Regeln der Kriegskunst war der Krieg militärisch entschieden. 

Doch die „provisorische Regierung der nationalen Verteidigung“ der am 4. September proklamierten Republik, in der der neue Innen- und Kriegsminister Léon Gambetta den Ton angab, war entschlossen, den Krieg fortzusetzen. Sie kündigte die Fortsetzung des Kampfes à outrance (bis zum Äußersten) an. Der neue Außenminister Jules Favre traf sich zwar am 19. September mit Bismarck und bot eine Kriegsentschädigung von fünf Milliarden Francs an, hatte aber bereits zuvor den europäischen Regierungen verkündet, daß Frankreich „kein Zollbreit unseren Gebietes, keinen Stein unserer Festungen abtreten werde“. Die deutsche Führung bestand hingegen auf die Abtretung des Elsaß und Teilen Lothringens zur Sicherung des Vorfelds des Rheingebiets und Süddeutschlands. Die Verhandlungen scheiterten. Der Krieg ging weiter. Daß er mit einem deutschen Erfolg enden würde, war zwar wahrscheinlich, aber noch keine ausgemachte Sache.

In dem seit dem 19. September von zwei deutschen Armeen eingeschlossenen Paris verfügte General Louis Trochu, Militärkommandant der Stadt und Oberhaupt der provisorischen Regierung, über 2.600 Geschütze und 350.000 Mann, darunter noch 80.000 Mann reguläre Truppen. Direkte Angriffe zur Eroberung der durch viele Außenforts gut geschützten Stadt hätten schwere Verluste gekostet. Es blieb nur das Aushungern. Nach der Einschließung von Paris und Metz und zahlreicher weiterer Festungen waren damit nahezu alle deutschen Truppen durch Belagerungen gebunden. Für Operationen in die Tiefe Frankreichs oder gar eine Besetzung weiterer Gebiete standen keine Soldaten mehr zur Verfügung. 

Am 27. Oktober kapitulierte das ausgehungerte Metz

In den unbesetzten Teilen Frankreichs begann die „Delegation der provisorischen Regierung“ in Tours unter der energischen Leitung Gambettas, der in einem Heißluft-Ballon aus Paris entkommen war, mit der Aufstellung neuer Truppen. Gambetta konnte auf ein Potential von zwei Millionen wehrfähigen Männern zurückgreifen, um eine neue Massenarmee aufzustellen. Ausgerüstet wurden sie mit Waffen aus den Arsenalen, Neufertigungen in den unbesetzt gebliebenen Teilen des Landes und umfangreichen Importen aus Großbritannien und den USA. Was fehlte, waren erfahrene Offiziere und Unteroffiziere. Die meisten waren bereits gefallen, gefangengenommen oder in Metz, Paris und anderswo eingeschlossen worden. Für die Führung der neuen Armeen fanden sich noch professionelle Troupiers, doch waren die meisten der neuen Offiziere und Unteroffiziere unfähig, die in großer Zahl ausgehobenen unausgebildeten Männer zu guten Soldaten zu machen und sie später im Gefecht taktisch klug zu führen. Die frisch rekrutierten Truppen wurden zudem ohne festen inneren Zusammenhalt zu schnell in die Schlacht geworfen und erwiesen sich im deutschen Artilleriefeuer als wenig standfest. 

Die kriegserfahrenen Deutschen blieben deshalb in den Gefechten nach dem September trotz ihrer fast immer gegebenen numerischer Unterlegenheit meist, wenn auch nicht immer siegreich und fügten den Franzosen deutlich höhere blutige Verluste zu als sie selbst erlitten. Im September 1870 eroberten sie die Festungen Toul und Straßburg und machten so die wichtigsten Eisenbahnlinien nach Deutschland frei. Die durch moderne Vorwerke gut geschützte Festung Metz war eine härtere Nuß. Hier blieb nur das Aushungern von Bazaines eingeschlossener Rheinarmee, was allerdings gut 200.000 Mann band. Nach Erschöpfung der Nahrungsvorräte und von einer Ruhrepidemie heimgesucht, kapitulierte Bazaine am 27. Oktober mit immerhin noch 150.000 kampffähigen Männern. 

Erst durch den Fall dieser und anderer Festungen wurden genug deutsche Soldaten frei, um die neuen französischen Massenheere wirksam bekämpfen zu können. Es war auch höchste Zeit. Die aus dem Boden gestampften neuen französischen Truppen sammelten sich im Südwesten im Tal der Loire bei Orléans, im Norden zwischen Somme- und Seine-Mündung und im Südosten südlich von Belfort. Seit dem Herbst 1870 versuchten sie, nach Paris vorzustoßen, um den deutschen Belagerungsring um die Hauptstadt aufzubrechen. Zugleich unternahm die Pariser Garnison, zeitlich koordiniert mit den Vorstößen aus den Provinzen, immer wieder Ausbrüche. Ein gleichzeitiges Durchbrechen des Belagerungsringes um Paris von innen und außen hätte die deutschen Truppen in Frankreich durchaus in ernsthafte Schwierigkeiten bringen können.

Die erste Runde der Kämpfe im Herbst 1870 endete mit einem Patt. Das verstärkte I. bayerische Korps unter General Ludwig von der Tann besetzte am 11. Oktober Orléans, wurde aber am 9. November bei Coulmiers von 70.000 Mann der Loire-Armee angegriffen und zur Räumung der Stadt gezwungen. Ende November griff die Loire-Armee mit 90.000 Mann die 35.000 Mann starken preußischen und bayerischen Truppen erneut an, erlitt aber am 2. Dezember in der Schlacht von Loigny und Poupry mit 18.000 Mann Verlusten eine schwere Niederlage. Am 5. Dezember verlor sie weitere 20.000 Mann, als die Deutschen Orléans zurückeroberten. 

Im Südosten schlug das nach dem Fall von Straßburg gebildete XIV. Armeekorps unter Generals August von Werder mehrfach Truppen der „Vogesenarmee“ und besetzte am 30. Oktober Dijon. Im Norden besiegte die bei Metz freigewordene 1. Armee unter General Edwin von Manteuffel am 27. November bei Amiens die französische Nordarmee und eroberte die Stadt. Zu weiteren Vorstößen in die Tiefe des Landes fehlten den Deutschen jedoch an allen Fronten die Kräfte.

Im Januar 1871 versuchte Gambetta noch einmal, die militärische Wende zu erzwingen. Gleichzeitige Angriffe aus dem Norden und Südwesten und ein großer Ausbruch der Pariser Garnison sollten den deutschen Belagerungsring um die Stadt sprengen. Zugleich würde im Südosten eine neu aufgestellte Armee nach Norden vorstoßen und die Nachschublinie der Deutschen in Ostfrankreich durchtrennen. 

Bei dem Versuch, diesen Plan durchzuführen, erlitten die Franzosen innerhalb weniger Tage vier schwere Niederlagen. Die 150.000 Mann starke Zweite Loire-Armee wurde von der bei Metz freigewordenen 2. Armee (58.000 Mann) in der Schlacht von Le Mans vom 10. bis 12. Januar zerschlagen (7.000 getötete oder verwundete Franzosen, 22.000 Gefangene, 50.000 Deserteure). 

Franzosen verloren oft trotz zahlenmäßiger Übermacht

Die 40.000 Mann starke Nordarmee büßte am 19. Januar bei St. Quentin mit 3.500 blutigen Verlusten und über 9.000 Gefangenen ein Drittel ihrer Soldaten ein. Der von 90.000 Pariser Bewaffneten am 19. Januar, einen Tag nach der deutschen Kaiserproklamation in Versailles, unternommene Ausfall scheiterte unter hohen Verlusten. Im Südosten wurde die 150.000 Mann starke neue Ostarmee unter General Charles Bourbaki in der Schlacht an der Lisaine zwischen dem 15. und 17 Januar vom XIV. Armeekorps zurückgeschlagen. Eine neu gebildete deutsche Südarmee verlegte Bourbaki den weiteren Rückweg und schloß ihn am 26. Januar bei Pontarlier mit dem Rücken zur Schweizer Grenze ein. Die Ostarmee löste sich daraufhin auf. 87.000 Soldaten traten Anfang Februar über die Grenze und wurden interniert, der Rest desertierte. 

Wie die hohen Zahlen an Gefangenen und Deserteuren zeigten, brach die französische Kampfmoral mehr und mehr zusammen. In Paris, wo nun auch die Nahrungsvorräte erschöpft waren, erklärte General Louis Jules Trochu am 20. Januar jeden weiteren Befreiungsversuch für sinnlos. Der Wille zur Fortsetzung des Kampfes erlosch. Am 23. Januar bot Außenminister Favre die Kapitulation von Paris samt der Übergabe aller Forts für einen Waffenstillstand und die Verproviantierung der Stadt an. Bismarck bestand darüber hinaus auf die Ausdehnung des Waffenstillstands auf das ganze Land. Paris akzeptierte am 26. Januar. Der in Bordeaux weilende Gambetta lehnte noch ab. Als jedoch die Nachricht von der Auflösung der Ostarmee eintraf, trat er am 6. Februar zurück. Damit war der Krieg endlich entschieden.