© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/20 / 23. Oktober 2020

Die Proteste werden immer leiser
Vor siebzig Jahren besetzte China Tibet: Das immer rücksichtslosere Besatzungsregime spielt in der Chinapolitik des Westens heute kaum mehr eine Rolle
Michael Dienstbier

Tibet, war da was? Vorbei die Zeiten, als Hollywoodgrößen wie Richard Gere zum Sprachrohr einer „Free Tibet“-Bewegung avancierten und das Schicksal dieses Gebiets ins Zentrum globaler Aufmerksamkeit katapultierten. Die Rollen waren dabei klar verteilt: die bösen Chinesen auf der einen, die friedliebenden Tibeter auf der anderen Seite. Doch diese Erzählung ist zu simpel. Dem Einmarsch in Tibet am 7. Oktober 1950 – von der chinesischen Staatsführung erst am 24. Oktober offiziell verkündet – lagen ideologische, machttaktische und historische Motive zugrunde, die in unterschiedlicher Ausprägung das Verhältnis Chinas zu dieser Provinz bis heute prägen.

Nachdem die Kommunisten unter Führung Mao Tse-tungs den jahrelangen Bürgerkrieg gegen die Kuomintang für sich entschieden hatten und 1949 die Volksrepublik China gründeten, stand Tibet ganz oben auf ihrer Agenda. Als Theokratie und absolutistische Monarchie, in der die nahezu ausschließlich agrarisch geprägte Bevölkerung in einem feudalen Abhängigkeitsverhältnis zum mönchischen Klerus stand, markierte Tibet auf gleich mehreren Ebenen den ideologischen Gegenentwurf zur neuen Volksrepublik. 

Äußerungen des Dalai Lama gegenüber China zu zaghaft

Auch zur Konsolidierung der neuen Machtverhältnisse erschien Mao die Besetzung opportun, handelt es sich bei Tibet – ein Gebiet fast viermal so groß wie Deutschland – in den Augen einer überwiegenden Mehrheit des chinesischen Volks doch um urchinesisches Territorium, seit es 1720 unter der Qing-Dynastie Teil des Kaiserreichs geworden war. Kommunistische Ideologie und identitätsstiftender Nationalstolz gingen hier Hand in Hand. 1913 hatte Tibet das politische Vakuum nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs genutzt, um seine Unabhängigkeit zu erklären, die jedoch nur von der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien anerkannt wurde.

Die Wochenzeitung Die Zeit charakterisierte die Besetzung Tibets einmal als „höflichen Überfall“. Tatsächlich kam es in der ersten Phase zu keinem Blutvergießen. Es war den kommunistischen Machthabern daran gelegen, als „Befreier“ von repressiven Strukturen wahrgenommen zu werden und dementsprechend aufzutreten. Das Tibet bis heute auszeichnende Mönchs- und Klosterwesen wurde nicht angetastet, dem Dalai Lama – weltliches und geistliches Oberhaupt in einer Person – wurde gestattet, weiter in der Hauptstadt Lhasa zu residieren. Im Laufe der Jahre mehrten sich jedoch Fälle persönlicher Bereicherung durch chinesische Offizielle und damit verbunden gewaltsamen Vorgehens gegen die tibetische Bevölkerung. Die Proteste dagegen mündeten 1959 in einen Aufstand, der vom chinesischen Militär mit aller Brutalität niedergeschlagen wurde – die Anzahl der Todesopfer taxieren Forscher heute auf knapp 90.000. Erst jetzt floh der Dalai Lama in sein indisches Exil, wo er bis heute lebt.

Auch wenn sich der Dalai Lama aufgrund seines freundlichen, fernöstliche Weisheit ausstrahlenden Auftretens im Westen, gerade in Deutschland, weiterhin großer Beliebtheit erfreut, sind zunehmend kritische Stimmen zu vernehmen. Zu harmlos, zu wenig konkret sei sein Auftreten in den vergangenen Jahren gewesen. Stets betont er sein Ideal von Harmonie und Ausgleich, ohne dabei klare eigene Interessen zu definieren. China gegenüber äußert er sich bewundernd ob des beeindruckenden ökonomischen Erfolges. Das mag persönlich sympathisch sein und ist sicherlich auch Ausdruck einer tief empfundenen buddhistischen Spiritualität – ernst genommen wird er so aber von niemandem. Als „Panda der Weltpolitik“ wird Tibet häufig bezeichnet, irgendwie nett und putzig, aber auch harmlos und verteidigungsunfähig. Das mag zynisch anmuten, trifft den Nagel aber auf den Kopf.

Als selbstbewußt auftretende Weltmacht wird China im Westen, allen voran den USA, zunehmend rhetorisch und ökonomisch bekämpft. Doch ob Trump, Merkel oder Macron – das Thema Tibet spielt in den Verhandlungen keine Rolle mehr. Tibet ist weder das erste Territorium, noch wird es das letzte sein, welches ein Schicksal als wehrlose Verhandlungsmasse weltpolitischer Großmächte fristet.