© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/20 / 23. Oktober 2020

Weg vom Tier, hin zur Technik
Wie unsere Hausschweine zum Opfer einer Revolution im Stall wurden / Weniger Arbeit, mehr Ertrag
Dieter Menke

Als Leserbrief samt handgefertigter Skizze präsentierte der Schweinehalter Carl-Dieter Felber aus Dollern bei Buxtehude in den Neuen Mitteilungen für die Landwirtschaft eine Erfindung, die meilenweit entfernt davon war, einen Beitrag zur agrarischen Hochtechnologie des 21. Jahrhunderts zu leisten. Trotzdem läßt die Bremer Historikerin Veronika Settele mit dem simplen Kastenstand von 1950 eine epochale „Revolution im Stall“ beginnen, die der industriellen Fleischproduktion den „großen Sprung nach vorn“ ermöglichte (Technikgeschichte, 2/20).

Felbers Prototyp war nichts als eine mannshohe, oben offene Kiste, die eine Muttersau kurz vor ihrer Niederkunft im engen Stand fixieren sollte, um ihren Bewegungsradius für Wochen so einzuschränken, daß sie sich nicht auf ihre Ferkel legen konnte. Dieses Totliegen war damals die häufigste Todesursache des Schweinenachwuches. Jedes dritte bis fünfte Ferkel überlebte damals seine Geburt ohnehin nur einen Monat, und die Hälfte dieser Verluste ging auf das Konto ihrer schweren Mütter: Mit jeder ihrer Körperdrehungen liefen die tapsigen Kleinen, die an die Zitzen drängten oder mütterliche Wärme suchten, Gefahr, zerquetscht zu werden.

Personalintensiver Luxus verteuert Fleischproduktion

Wirtschaftlich machten sich solche Verluste empfindlich bemerkbar. Jedes erdrückte Ferkel komme einer vergeudeten Futtermenge für die Sau zwischen 50 und 100 Kilo Getreide gleich, rechneten Experten vor. Die tierfreundliche Alternative zu Felbers Kastenstand erwies sich als unrentabel, wie man ausgerechnet in den realsozialistischen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) erfahren mußte. Walburga Ammler, die – wie es noch gegen jede Genderkorrektheit hieß – als Schweinezuchtmeister in der LPG „Thomas Müntzer“ nahe Köthen 45 Sauen betreute, hatte 1960 auf dem sechsten DDR-Bauernkongreß geschildert, welchen Aufwand eine Ferkelaufzucht jenseits von Kastenstand und Erdrückungstod bedeutete. Ammler beaufsichtigte jede Geburt, trennte die Ferkel sofort vom Muttertier, mußte sie aber vier Tage lang alle zwei Stunden, rund um die Uhr, an dessen Zitzen legen.

Solchen personalintensiven Luxus konnte man sich aber weder in Ost noch West auf Dauer leisten, weil dies die Fleischproduktion enorm verteuert hätte. Und nach den Mangelerfahrungen der Nachkriegszeit kam der Versorgungssicherheit überall politische Priorität zu. Technische Verbesserungen im Stall, die mehr Schweinefleisch zu produzieren versprachen, waren daher hochwillkommen. Antreibend habe dabei im Kapitalismus zwar die Aussicht auf Gewinnmaximierung, im Sozialismus die Befriedigung von Grundbedürfnissen gewirkt, doch ansonsten überwogen deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten technischer Transformation.

Und die schritt in den sechziger Jahren in Windeseile voran. Aus Felbers Holzkisten entwickelten sich bald metallene Abferkelbuchten zur „industriemäßigen Produktion“. Und die Arbeitsschritte der Menschen richteten sich an der neuen Technik aus. Die Bilanz der Schweinehaltung war um so besser, je kontinuierlicher man die neuen, nun mit erheblichen Investitionen verbundenen modernen Kastenstände auslastete. Was zunächst selten war, weil es in den wenigsten Zuchten das ganze Jahr über gleichmäßigen Nachwuchs gab.

Der Kostendruck erzwang also weitere Erfindungen. In der Sauenzuchtanlage im ostthüringischen Postendorf lösten sozialistische „Neuerer“ auch dieses Problem. Dort baute 1972 das LPG-„Kollektiv“ 150 Abferkelbuchten, um alle tragenden Sauen aus dem Umland zu konzentrieren, so daß die Anlage stets ausgelastet war. Um die Produktivität weiter zu erhöhen, mußte die neue Stallkultur allerdings durch die Biotechnologie perfektioniert werden. Dafür besamten eigens dafür ausgebildete Schweinehalter, die sich dann im Westen Besamungs-, in Osten Zootechniker nannten, alle 123 Tage, so lange dauert die Trächtigkeit einer Sau, eine Kohorte Schweine künstlich.

„Wissenschaft der idealen Schweinefütterung“

Damit die Fortpflanzungssteuerung funktionierte, mußte man die Sauen zuvor hormonell synchronisieren. Die Temporalstruktur des Stallgeschehens verlief seitdem nicht länger entlang der Rhythmen des Tierkörpers: „Stattdessen hatte das Stallpersonalpersonal die Tiere qua Ovulationssynchronisation mit terminorientierter Besamung an die Erfordernisse ökonomisch wünschenswerter Stallnutzung angepaßt.“ Damit war der vorläufige Höhepunkt eines Arbeits- und Produktionsprozesses erreicht, dessen Wurzeln Settele bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt.

Im Gleichklang mit Industrialisierung und Bevölkerungswachstum sei die Tierhaltung als eigenständige, rentable Unternehmung aus dem Schatten des Ackerbaus getreten. Die verstärkte Hinwendung zu tierischen Lebensmitteln ließ die Schweinezahlen in deutschen Landen zwischen 1800 und 1873 von 16,2 auf 25 Millionen Tiere emporschnellen. Die Tiere lieferten schon damals mehr Fleisch pro Tier als ihre Vorfahren, weil Zuchtwahl ihre genetische Ausstattung und Kartoffelfütterung ihren Stoffwechsel optimiert hatte. Nur die Interaktion im Stall blieb antiquiert, da hoher Betreuungsbedarf sowie Schaufel, Eimer und Karre die Schweinehaltung bis 1950 bestimmten. Erst die neuen Erfindungen veränderten die Stallhaltung grundlegend: „Weg vom Tier, hin zur Technik“.

1970 fanden Forscher am Max-Planck-Institut für Landarbeit und Landtechnik in Bad Kreuznach heraus, daß Automaten- der traditionellen Trogfütterung nicht nachstehe. Ihre „Wissenschaft der idealen Schweinefütterung“ mündete 1975 in der ersten serienreifen automatischen Fütterungsanlage aus verzinktem Stahlblech und korrosionsfestem Aluminium. Mit diesen Wunderapparaten korrespondierte eine neue, in Skandinavien entwickelte Technik der Entmistung. Nach der Rationalisierungsmaxime „Nichts tragen, was fließen kann“, erhielten die Schweineställe „Spaltenböden“. Fortan traten die Tiere ihre Exkremente durch Spalten, die ihren Buchtenboden durchzogen, in darunter liegende Dungwannen, wo der Dreck gesammelt und leicht abgepumpt werden konnte. Das sparte die Zeit des täglichen Entmistens mit der Hand und bot zusätzlichen Raum in der Bucht, da die Tiere keinen eigenen Mistplatz mehr benötigen.

Die Momente des Mensch-Tier-Kontaktes wurden im Zuge der agrarischen Rationalisierung und der – heute computergestützten – Automatisierung, die der rasant anziehenden Nachfrage nach „billigem Fleisch“ gehorchte, immer seltener. „In dem Maße wie die Technik zu einem Teil der Menschen wurde, ihre Sinneswahrnehmungen und Denkstrukturen prägte, wurden es die Tiere weniger“. Folglich kümmerte das Tierwohl weder die Betreiber der Massentierhaltung noch den Gesetzgeber, noch den Konsumenten.

„Mensch, Tier und Technik. ‘Doing Technology’ in deutschen Schweineställen und die Veränderung des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier seit 1945“, in Technikgeschichte 2/20:  www.tg.nomos.de

Aktuelle Zahlen zur Schweinehaltung:  www.praxis-agrar.de