© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/20 / 23. Oktober 2020

Der Flaneur
Schlechte Saison
Maria Bentz

Kirchgänger kennen ihn. Welche Veranstaltung auch immer in irgendeiner der örtlichen Kirchen stattfindet, er ist da, konfessionsübergreifend, Kälte und Hitze trotzend grüßt er fröhlich. Oft hält er die Tür auf. Auch im „Nachrichtendienst“ für Lokales ist er firm, besonders für Menschen wie mich, die keine Lokalblätter lesen. So erfährt man von Mafia-Bossen in der Medizinischen Hochschule, Messerstechereien und ähnlichem. 

Münzen landen eher selten in seinem bereitstehenden Becher, aber ein paar freundliche Worte kann er immer einheimsen. Und bei kleinen Festen gönnt man dem diskret Eingeschlichenen durchaus ein paar Happen, Alkohol meidet er. In der Innenstadt sieht man ihn nie.

Er befreit sich von der Maske und freut sich über die Münze in seinem Becher.

Aber heute? Mit hängenden Schultern sitzt er trübsinnig an der Kirchenmauer, einen schmuddeligen Stoffetzen vor dem Gesicht. Er schaut nicht einmal auf bei meinem freundlichen Gruß. Klar, es war keine gute Saison. Kirchen streckenweise zu, Veranstaltungen gestrichen, jetzt ist es nicht viel besser. „Giovanni, wie geht’s?“ Als Sohn ehemaliger italienischer Gastarbeiter, geistig ein wenig zurückgeblieben, ist er hier gestrandet. „Ooch ...“ Ein Paar tieftraurige Augen blicken über den Stoffrand. „Warum trägst du das?“ frage ich ihn. „Du bist doch ganz allein und draußen.“ Er zuckt mit den Schultern. Trostlos. 

Da kommt mir eine Idee: „Kannst du mir helfen?“ Sofort springt er auf. Wie weggeblasen die Lethargie. Es gilt eine große Tasche zu tragen und hinter die schwere Kirchentür zu transportieren. „Ich laufe zwei Meter hinter dir“, verspreche ich, „dann kannst du das Ding da abnehmen.“ Erleichtert befreit er sich, wischt den Schweiß von der Stirn und atmet tief durch. „Mach ich doch, mach ich doch immer“, eilt er vor mir her. Schon steht die Tasche am vorgesehenen Platz. Diesmal landet eine Münze in seinem Becher. „Bis nächsten Sonntag!“, strahlt er über das ganze Gesicht.