© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/20 / 30. Oktober 2020

Neue Medien und uralte egalitäre Träume
Digitalisierte Unvernunft
(wm)

Die von Twitter, Facebook & Co. zumindest technisch ermöglichte massive Ausweitung politischer Teilhabechancen hat für den Konstanzer Literaturhistoriker Albrecht Koschorke ihre Vorläufer in den „Medienrevolutionen“ des 15. und 18. Jahrhunderts. Wie heute, so wurden damals bestehende Informations- und Wahrheitsmonopole einer Kommunikationselite angegriffen (Merkur 9/2020). In der Reformationszeit waren es dank der Verbreitung des Buchdrucks schnell und günstig zu vervielfältigende Flugschriften, Sendschreiben oder Predigten, die die weltliche und geistliche Obrigkeit attackierten. In der Epoche der Aufklärung übernahm diese Funktion ein Gewimmel meist kurzlebiger, von „Untergrundliteraten“ redigierter Zeitschriften, die am Vorabend der Französischen Revolution die politische Atmosphäre aufheizten. Heute versprechen „Soziale Medien“ ihren Nutzern die Erfüllung des alten egalitären Traums einer „demokratischeren Demokratie“. Jeder könne durch seine Meinungsäußerung am „Aushandeln“ politischer Entscheidungen teilnehmen, so wie Mitgliederbefragungen in den Parteiapparaten zunehmend hierarchisch kontrollierte Konsenserzeugung ablösen. Dieser Prozeß vertiefe die Krise der Organisationsform Partei, stelle die Repräsentation als zentrales Element demokratischer Willensbildung zur Disposition und verschaffe randständigen „Laienbewegungen und popularkulturellen Strebungen“ bisher nie gekannten Einfluß. Da Vernunft aber keine vollständig demokratisierbare Kategorie sei, stelle sich die Frage, wie in dieser „digitalisierten Demokratie“ noch soziale Verbindlichkeit herzustellen sein werde. 


 www.merkur-zeitschrift.de