© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/20 / 30. Oktober 2020

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Der französische Innenminister erklärte jüngst, daß die Behörden bei 851 Illegalen eine Radikalisierung mit terroristischer Tendenz festgestellt hätten. 231 dieser Migranten sollten ausgewiesen werden, 180 befänden sich schon in Haft. Auf die Frage, was mit den verbleibenden 620 Gefährdern sei, war keine Antwort zu erhalten.

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Bildungsbericht in loser Folge CXXVIII: Zu den unerwarteten Konsequenzen der Ermordung des französischen Geschichtslehrers Samuel Paty in einem Pariser Vorort durch einen islamistischen Attentäter gehört die Erklärung des Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes Heinz-Peter Meidinger, daß Schüler und Eltern mit Migrationshintergrund – gemeint sind nicht: eingewanderte Chinesen, Vietnamesen, Bolivianer, Iren, Polen etc. – eine fatale Neigung zeigten, Druck auf Schulen und deren pädagogisches Personal auszuüben. Das Ziel sei, die Behandlung unliebsamer Themen zu verhindern. Ein Problem, das weder neu noch auf „Brennpunktschulen“ beschränkt ist. Vor allem aber: Es ist nur ein Teilproblem. Denn im Erziehungswesen hat sich seit langem und verstärkt seit der „Flüchtlingskrise“ eine Tendenz breitgemacht, Fremdenfreundlichkeit zu systematisieren. Die gab es im Hinblick auf Inhalte schon früher. Wer einen Blick in das Unterrichtsmaterial wirft, erkennt rasch, daß nicht nur die Behandlung von Einwandererbefindlichkeiten und wachsender Vielfalt eine ausgesprochen wohlwollende ist, sondern auch die des Islam. Die Historizität des Propheten wird so wenig in Frage gestellt wie das Alter des Koran. Die inneren Verhältnisse der arabisch-türkischen Welt im Mittelalter und der Neuzeit sind grundsätzlich kein Thema. Und während der Nachwuchs selbstverständlich lernt, die Kreuzzüge mit Abscheu zu betrachten, wird deren Auslöser – die kriegerische Expansion des Islam – bestenfalls kursorisch behandelt und das Wesen des Dschihad verschleiert. „Al Andalus“ strahlt in hellem Licht, der Untergang des Byzantinischen Reiches erscheint als natürliche Konsequenz von Altersschwäche und „Wien 1683“ dürfte heute kaum einem Schüler ein Begriff sein. In der Regel war diese Art der Ausrichtung die Folge linker, antikolonialistischer, politisch-korrekter Perspektiven. Was nun hinzukommt, ist eine Art erpreßter Schonung. Aber auch die hat eine Vorgeschichte. Wer lange genug im Schuldienst war, kennt die Sorge des Lehrers, durch die Vergabe einer Fünf oder Sechs an jemanden erkennbar nichtbiodeutscher Herkunft in den Ruch des Rassismus zu geraten – oder die ebenso sentimentale wie politisch erwünschte Vorstellung, man habe eine besondere – „soziale“ – Verantwortung, die dazu zwinge, der Dreistigkeit von Eltern nachzugeben und von Dummheit, Faulheit und Disziplinlosigkeit des Zöglings abzusehen. Dabei ging und geht es nicht nur um persönliche, sondern um institutionelle Schwäche, und die, die jetzt eben da sind, haben oft eine feine Witterung für solche Schwäche.

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Monsieur Macrons Kriegserklärung an den Terror wird den Adressaten sicher mit Schrecken erfüllen.

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Die Art und Weise, in der heute über „Antisemitismus“ gehandelt wird – man scheut sich von „Diskussion“ zu sprechen –, ist schon deshalb heillos, weil ihr jede klare Begrifflichkeit fehlt. Das hat in erster Linie mit Überdehnung zu tun, das heißt der Tendenz, unter Antisemitismus jede Art von Feindseligkeit gegenüber Juden beziehungsweise dem Judentum zu verstehen und nicht mehr die spezifische, auf Rassenvorstellungen fußende Ideologie, die im Gefolge der Französischen Revolution entstand. Ohne Zweifel hat diese ältere Elemente in sich aufgenommen: Neben einer unspezifischen Aversion (ähnlich dem Franzosen-, Dänen-, Schwaben- oder Deutschenhaß) spielten antike Motive eine Rolle (etwa der Vorwurf, die Juden bildeten eine Verschwörung, pflegten eine intolerante Haltung gegenüber Andersgläubigen, seien geldgierig und kulturell unfruchtbar), sowie christliche (die Juden seien als „Gottesmörder“ verflucht) und aufklärerische (die den antiken entsprachen, ergänzt um die Behauptung, die Juden verweigerten sich der Moderne). Was im 19. Jahrhundert neu hinzukam, war die Vorstellung eines ewigen Konfliktes zwischen „Ariern“ und „Semiten“. Die wurde wegen des pseudowissenschaftlichen Charakters zuerst von links propagiert, dann ging sie auf die Mitte und die Rechte über. Abgesehen vom Sonderfall Rußland – dort blieb immer die ältere, christliche Judenfeindschaft ausschlaggebend –, erwiesen sich in Europa vor allem katholische Länder mit einer stärkeren jüdischen Bevölkerung wie Frankreich und die Donaumonarchie als günstiger Nährboden des Antisemitismus (nicht etwa das Bismarckreich). Daß Hitler seiner Herkunft nach Österreicher und Katholik war (nicht etwa Preuße und Protestant), gehört in diesen Zusammenhang wie die Tatsache, daß Himmler und Goebbels mit ihm die zweite Eigenschaft teilten und die NSDAP ihren Wurzelgrund in Bayern (nicht etwa in Preußen) fand.


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 13. November in der JF-Ausgabe 47/20.