© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/20 / 30. Oktober 2020

Brutale Verdrängung
Nach 1920 betrieb Polen in den früheren preußischen Provinzen Posen und Westpreußen mit Drangsalierungen und Enteignungen eine gezielte „Entdeutschungspolitik“
Matthias Bäkermann

Zwischen den westpreußischen Städten Marienwerder und Graudenz liegen etwa dreißig Kilometer. Während sich aber in Marienwerder im Frühling 1920 alles auf die Volksabstimmung über den Verbleib beim Deutschen Reich im Juli vorbereitete, ist diese Entscheidung für das etwas südlichere Graudenz bereits ein Jahr zuvor in Versailles getroffen worden – zugunsten Polens. 

Dessen ungeachtet wurden Anfang Mai in der zu 85 Prozent von Deutschen bewohnten Stadt am östlichen Weichselufer Plakate geklebt, die eine Rückgliederung auch dieses Teils von Westpreußen an Deutschland forderten. Die seit dem Frühjahr 1920 in Graudenz das politische Regiment verantwortenden Polen reagierten jedoch sofort mit großem Eifer gegen diese Protestaktion. Nach raschen Ermittlungen wurden 25 Verdächtige festgenommen, 17 von ihnen (fast alle Gewerkschaftler und Genossen der örtlichen USPD) nach Thorn geschafft, dort standrechtlich abgeurteilt und am 25. Mai erschossen.

„Das polnische Land ist für die Polen bestimmt“

Nicht nur diese Episode bewies den Deutschen in den laut Versailler Vertrag an Polen abgetretenen Provinzen Posen und Westpreußen, daß mit ihren neuen Herren nicht gut Kirschen essen war und sie Opfer einer hemmungslosen Volkstumspolitik zu werden drohten. Zuvor hatte bereits der spätere polnische Religions- und Bildungsminister Stanislaw Grabski auf einer Großkundgebung in Posen 1919 die Absicht verkündet, den Prozentsatz der Deutschen in der Provinzmetropole von zwanzig auf 1,25 zu senken: „Das fremde Element wird sich umsehen müssen, ob es sich anderswo besser befindet. Das polnische Land ist ausschließlich für die Polen bestimmt!“ 

Während in der preußischen Provinz Posen bereits vor 1918 mehrheitlich Polen lebten und nur in den Grenzbereichen zu Schlesien, Brandenburg und im Norden entlang der Netze die deutschsprachige Bevölkerung dominierte, war die Situation in der neuen polnischen Provinz Pommerellen (Województwo pomorskie) völlig anders. Hier waren die Deutschen mit etwa 50 Prozent in der relativen Mehrheit, der Rest teilte sich zwischen Polen und Kaschuben auf. Der kleine slawische Volksstamm, der seit Jahrhunderten westlich von Danzig bis zur hinterpommerschen Ostseeküste lebte, wurde allerdings von den polnischen Verhandlungsführern um Roman Dmowski in Versailles ebenso wie die Masuren in Ostpreußen als „unbefreite Polen“ geführt. Immerhin erwies sich im fast einstimmigen Abstimmungsergebnis für Deutschland zumindest bei den Masuren Dmowskis Wunschtraum als völlig trügerisch (JF 29/20). Ansonsten stellten Polen nur in einigen Landkreisen (Michelau, Preußisch Stargard oder Konitz) die Mehrheit.

Nachdem im Februar 1920 die zwischen Netze und Weichsel stehenden deutschen Grenzschutzverbände der Freikorps abrückten, konnte die polnische Administration das in Versailles zugesprochene neue Land bis hin zur Ostsee in Besitz nehmen. Lediglich wegen des Einspruchs des englischen Premierminister Lloyd George wurde Danzig und sein Umland mit seiner fast ausschließlich deutschen Bevölkerung ausgenommen, obwohl sowohl Polen als auch Frankreich bis zum Schluß der Pariser Vorortverhandlungen im Mai 1919 auf die Abtretung der alten Hansestadt an Polen insistierten. Die Übernahme der Verwaltung führte, zusammen mit den aufgelösten preußischen Garnisonen, zu einer ersten Abwanderungswelle von mehreren zehntausend Deutschen ins Deutsche Reich, denn die Verantwortlichen in den Ämtern wurden beinahe komplett ausgetauscht.

Damit wurde aber lediglich der Startschuß für eine systematische „Entdeutschung“ (odniemczenie) gegeben. Dem der polnischen Regierung auf Verlangen der Siegermächte, insbesondere von US-Präsident Woodrow Wilson, abgetrotzten Minderheitenschutzvertrag vom 28. Juni 1919 wurde vielfach nicht entsprochen. Auch wenn sich die ehemaligen Reichsangehörigen nun durch eine Option für Polen staatsbürgerlich neu auszurichten hatten, schützte dieser Schritt nicht vor Drangsalierungen. Der deutsche Haus- und Grundbesitz wurde durch verschiedene Zwangsmaßnahmen wie Liquidation oder Einsetzen von Zwangsverwaltern in polnische Hand gebracht. Allein in der kurzen Zeitspanne von 1925 bis 1927 wurden 4.000 Güter enteignet (während der gesamten „Germanisierungspolitik“ unter Bismarck wurden vier Güter aus polnischem Besitz enteignet). Deutschen Unternehmern wurden die Verträge gekündigt, sie wurden von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen oder die Lieferung von Rohstoffen oder Kohle zum Heizen wurde auf Weisung der Behörden ausgesetzt. Ein deutsches Schulsystem wurde nur sporadisch geduldet, der größte Teil der später in Polen verbleibenden Deutschen war gezwungen, polnische Schulen zu besuchen. In seinem Werk „Pommerellen Westpreußen 1919–1939“, München 1989) hatte der 1925 in Bromberg geborene Hugo Rasmus die vielfachen Schikanen und Übergriffe akribisch aufgezeichnet. Im Jahr 1930 hatte bereits der Danziger Politiker Hermann Rauschning eine detaillierte Zusammenstellung der polnischen Repressionspolitik gegenüber der deutschen Minderheit aufgestellt („Die Entdeutschung Westpreußens und Posens“, Berlin 1930).

Schlimmer noch waren aber die offen feindlichen Übergriffe – zuerst gegen frühere deutsche Funktionsträger wie Gemeindevorsteher oder Stadträte und die Institutionen der evangelischen Kirche, deren Besitz enteignet wurde. Auch gewöhnliche Deutsche wurden bald Opfer willkürlicher Verhaftungen, Mißhandlungen auf offener Straße, Plünderungen und Hausdurchsuchungen. In Lissa in der früheren Provinz Posen kam es sogar zu regelrechten Pogromen: „Schlagt Juden und Deutsche tot“, tobte dort der Mob, die polnischen Arbeiter der dortigen Waggonfabrik erzwangen die Entlassung aller deutschen Kollegen. Überführte Mörder an Deutschen wurden später sogar freigesprochen. Der nicht selten auch vom katholischen Klerus angestachelte Haß richtete sich nicht nur gegen Deutsche, sondern auch gegen Juden, die meist in der städtischen Kultur eine höhere Stellung einnahmen. „Wenn ein Deutscher oder Jude es wagt, irgend etwas gegen den polnischen Staat zu sagen, so bindet ihn mit Stricken und schleift ihn durch die Straßen“, rief der Landrat (Starost) von Kulm die Menge auf dem dortigen Marktplatz auf.

Innerhalb weniger Jahre führten die Repressionen und Verfolgungen zu einer massenhaften Abwanderung der Deutschen. Von etwa 1,3 Millionen auf dem Territorium der Polen zugeschlagenen Gebiete in Posen und Westpreußen blieben 1925 nur etwa 350.000 zurück. Besonders in den Städten erfolgte im Vergleich zum letzten Zensus 1910 teilweise ein kompletter Bevölkerungsaustausch, in Bromberg sank der Anteil der deutschsprachigen Bewohner von 77 auf 12 Prozent, in Graudenz von 85 auf 11 Prozent, in Dirschau von 62 auf 13 Prozent und in Thorn sogar von 66 auf 6 Prozent. 

Diese Entwicklung war ganz im Sinne der polnischen Regierung unter den Premiers zwischen 1920 und 1923, Wladyslaw Grabski bis Wladyslaw Sikorski. Denn nicht nur für die einflußreiche Nationaldemokratische Partei (Stronnictwo Narodowo-Demokratyczne) des vom chauvinistischen polnischen Westgedanken beeinflußten Roman Dmowski war der „Repolonisierungsprozeß“ in den ehemals preußischen Provinzen nur eine „Wiedergutmachung für historisches Unrecht“. Die in diesem Gebiet ansässigen Deutschen verdankten ihre Existenz ohnehin nur der Stärke einer „germanisierenden Politik des preußischen Staates“, seien somit nur ein „angeschwemmtes Element“ (element naplywowy). Durch eine systematische ethnische Säuberung im Zuge der „Entdeutschung“ sei dieser Mißstand nun geradezurücken. Diese Ansichten wurden in der gesellschaftlichen und politischen Führung Polens übereinstimmend befürwortet.

Großangelegte polnische Ansiedlungsprogramme 

Gleichzeitig startete die Regierung in Warschau ein nationales Besiedelungsprogramm vor allem in der Provinz Pommerellen. Junge Polen wurden dazu aufgerufen, in den Städten leichten Besitz zu ergreifen. Selbst in zuvor eher dünn besiedelten Gebieten wie der Tucheler Heide wurden Tausende Polen angesiedelt, um das während des Ersten Weltkrieges forstwirtschaftlich vernachlässigte und dem Borkenkäfer anheimgefallene riesige Waldgebiet wieder aufzuforsten. Mit diesen Maßnahmen schuf man sogleich festere „Volkstumsbrücken“ bis an die Ostsee, wo beim kaschubischen Fischerort Putzig am 10. Februar 1920 General Józef Haller mit Vertretern der Regierung, hohen Offizieren, katholischen Würdenträgern und Künstlern in einer patriotischen Zeremonie die „Vermählung Polens mit dem Meer“ vollzog, wobei er mit hohem Pathos einen Platinring in die Danziger Bucht warf. Etwas südlich davon wurde aus dem Symbol handfeste Realität, indem das kleine Dorf Gdingen in Konkurrenz zu Danzig zu einer modernen Hafenstadt ausgebaut wurde, in der bis Ende der dreißiger Jahre 115.000 Menschen lebten, die aus allen Teilen Polens an die Ostsee strömten.