© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Chaostage in Amerika
US-Präsidentschaftswahl: Das knappe Ergebnis hinterläßt ein immer tiefer gespaltenes Land
Thorsten Brückner

Während der Kampf um das Weiße Haus noch nicht endgültig entschieden ist, steht ein Verlierer bereits fest: die Demoskopen. Bei vielen von ihnen handelt es sich um Wiederholungstäter. Wie schon 2016 sagten sie mehrheitlich einen deutlichen Sieg für den Kandidaten der Demokraten, Joe Biden, voraus. Manche Analysten sprachen sogar von einem Erdrutschsieg in der Dimension des Reagan-Erfolgs über Jimmy Carter 1980. Nichts davon ist eingetreten. Der wiedergewählte republikanische Senator aus South Carolina, Lindsey Graham, brachte es in seiner Siegesrede auf den Punkt: „An all die Meinungsforscher da draußen, ihr wißt nicht, was ihr tut!“ Der „schüchterne Trump-Wähler“, der seine Wahl­entscheidung aus Sorge vor Stigmatisierung nicht an die große Glocke hängt, hat wieder zugeschlagen. In Wisconsin, ein Staat, in dem das Rennen so knapp ist, daß in der Wahlnacht noch kein Sieger ermittelt werden konnte, sah eine ABC/Washington Post-Umfrage Biden kurz vor der Wahl mit 17 Prozentpunkten vorne. Man möchte den dafür verantwortlichen Demoskopen raten, sich einem anderen Broterwerb zu widmen.

Das Land ist gespalten. Die Angst, die USA könnten unter Biden und seiner Vizepräsidentschaftskandidatin Kamala Harris zu einem sozialistischen Land werden, war für viele Amerikaner Motivation genug, sich ins Wahllokal zu schleppen und ihre Stimme Donald Trump zu geben. Der ursprünglich als moderat geltende frühere Vizepräsident tat wenig, um diesen Sorgen entgegenzuwirken. Seine Forderung nach einem Ende der Öl- und Gasindustrie im letzten Fernsehduell vor der Wahl kam nicht gut an. Sie war als Beschwichtigung des linken Parteiflügels um Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez gedacht, die dem Land einen „Green New Deal“ verordnen wollen. Sollte Biden am Ende als Sieger hervorgehen, wird er nicht undankbar darüber sein, daß die Republikaner im Senat wohl weiterhin eine knappe Mehrheit stellen werden. Deren Blockade dort wird ihm eine willkommene Ausrede gegenüber dem linken Parteiflügel bieten, warum er manche ideologischen Phantastereien nicht aufgreifen kann. Dazu gehört auch die politisch motivierte Aufstockung der Zahl der Richter am Obersten Gerichtshof, die zumindest für die nächsten zwei Jahre vom Tisch ist.

Schon jetzt zeichnet sich ab, daß über den Wahlausgang in einigen Staaten, darunter vor allem Pennsylvania, Gerichte zumindest mitentscheiden werden. Beide Seiten wittern Wahlbetrug. Beide fühlen sich als Sieger. Umstritten war nicht zuletzt die Auszählung von Briefwahlstimmen, die erst nach dem Wahltag eingehen. Als „schlimmsten Alptraum“ für die neun Richter am Obersten Gerichtshof bezeichnete Chris Wallace, der das erste TV-Duell moderiert hatte, den Zwischenstand. Wie schon 2000, als die obersten Richter über die Fortführung der Auszählung in Florida entscheiden mußten, könnten sie auch diesmal in Pennsylvania oder Michigan das Zünglein an der Waage spielen. Spätestens jetzt wird nachvollziehbar, warum die Republikaner im Eiltempo die Ernennung von Amy Coney Barrett zur Supreme-Court-Richterin vorangetrieben haben. Auch im Jahr 2000 erging die Entscheidung über den Wahlausgang denkbar knapp mit 5:4 Richterstimmen.

Trumps überzeugendes Finish, das ihn letzten Endes über die Ziellinie hieven könnte, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß er sich seine Ausgangsposition, die Anfang des Jahres dank einer boomenden Wirtschaft exzellent war, durch ein katastrophales Management der Corona-Krise seit März selbst verschlechtert hat. Obwohl sich Trump zuletzt als Anti-Lockdown-Kandidat inszenierte und europäische Regierungschefs scharf für ihre erneute Shutdown-Politik kritisierte, verteidigte der Präsident noch am Wahltag seine restriktive Herangehensweise aus dem Frühjahr, die ihm zufolge zwei Millionen Amerikanern das Leben gerettet habe.

Dennoch war die Wahl für viele Konservative zweifelsohne eine Entscheidung zwischen „Lockdown oder Liberty“, wie Fox-News-Moderatorin Laura Ingraham resümierte. Dies auch, weil die meisten Kritiker der Lockdown-Politik, die auf eine schnelle Öffnung und damit verbundene Erholung der Wirtschaft mitsamt Rückkehr von Arbeitsplätzen hoffen, mehrheitlich die demokratischen Gouverneure in den Bundesstaaten für die Beschränkung ihrer Freiheitsrechte verantwortlich machen. So gespalten wie Amerika in die Wahl ging, so gespalten wird es auch in den nächsten vier Jahren bleiben – ganz egal, wer am Ende gewinnt. Zahlreiche Staaten bereiten sich für den Fall eines Trump-Sieges bereits auf Ausschreitungen frustrierter Antifa- und Black-Lives-Matter-Fanatiker vor. Diese könnten noch durch die Tatsache geschürt werden, daß Biden wie schon Clinton 2016 erneut das „Popular Vote“ für sich entscheiden konnte. Von den vergangenen sechs Präsidentschaftswahlen konnte der Kandidat der Demokraten somit fünf Mal die Mehrheit aller Stimmen auf sich vereinigen.

Unabhängig vom Ausgang machte die Abstimmung Entwicklungen deutlich, die den Republikanern perspektivisch Sorgen machen müssen. Durch demographische Veränderungen schwindet ihre Mehrheit in ihrer Hochburg Texas zusehends. Auch die Niederlage in Arizona – ein Staat, der seit 1948 bei Präsidentschaftswahlen für den republikanischen Kandidaten gestimmt hat – muß schmerzen. Andere Staaten, in denen die Republikaner noch bis vor wenigen Jahren kompetitiv waren wie Colorado oder Virginia, sind jetzt deutlich in Demokraten-Hand. Auf der Habenseite steht dagegen ein struktureller Vorteil im wichtigen Swing State Florida. Inwieweit ein anderer Kandidat als Trump 2024 die Industriestaaten im Nordosten erneut zum politischen Schlachtfeld machen kann, wird eine der spannenden Fragen der nächsten Jahre sein, die über die Zukunft Amerikas über die kommende Präsidentschaft hinaus entscheiden werden.