© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Wild um sich geballert
„Lockdown light“: Es trifft erneut die ökonomisch hilflosesten Sektoren
Rainer Osbild

Die Bundesregierung hat im Einvernehmen mit den Ministerpräsidenten der Länder eine Art Mini-Lockdown angeordnet, der die Reduzierung der zwischenmenschlichen Kontakte zum Ziel hat. Das soll dazu beitragen, das Infektionsgeschehen zu bremsen und eine drohende Überlastung der Intensivmedizin zu vermeiden. Hauptbetroffene sind das Hotel- und Gaststättengewerbe, Sport- und Kultureinrichtungen, kommerzielle Freizeitaktivitäten nebst Einschränkungen im privaten Raum.

Es sei keineswegs klar, ob diese Orte maßgeblich zum Infektionsgeschehen beigetragen haben, so das Eingeständnis von Bundeskanzlerin Merkel. Bei 75 Prozent der Infizierten wisse man nicht um die Infektionsquelle. Es ist, als würde die Exekutive mit einer Schrotflinte um sich ballern. Aber treffen sie wenigstens zum Teil die richtigen?

Nein, denn gerade Gastronomie und Hotelgewerbe, aber auch Fitneßstudios, Schwimmbäder, Saunen und viele andere haben sich in den vergangenen Monaten durch ausgefeilte Hygienekonzepte hervorgetan. Es wurde investiert in Desinfektion und Absperrungen; es wurden Obergrenzen für Gäste zwecks Sicherung der Abstandsregeln erlassen. Das alles kostete viel Geld – und ist nun doch nutzlos.

Denn was signalisiert der „leichte“ Lockdown dem Mittelstand? Die Investitionen, die der Staat mit moralischem Impetus angemahnt und durch Zuschüsse mitfinanziert hat, werden mit einem einzigen Federstrich vernichtet. Ein Monat ohne Einnahmen, zumal im Vorweihnachtsgeschäft, dürfte für viele Unternehmen das Aus bedeuten. Selbst wenn das staatliche Füllhorn über die besagten Branchen ausgeschüttet wird, wird das deren Leid nur vorübergehend mildern. Zugleich ist die zügellose Zuschuß- und Schuldenpolitik ein Brandbeschleuniger für die rasante Zerrüttung unseres Geld- und Finanzwesens. 

Indes wäre es fatal anzunehmen, es fehle der Kanzlerin eine klare Strategie. Diese gibt es. Sie heißt Opportunismus. Seit einem Jahrzehnt schielt die Kanzlerin beständig auf das politisch opportune, medial darstellbare und umfragemaximierende Verhalten. So war es 2011 mit dem übereilten und kostspieligen Atomausstieg, als nach Fukushima der Anti-Atom-Reflex breiter Wählerschichten bedient wurde; so war es 2015 mit der Grenzöffnung; so war es 2019, als der deutschen Automobilindustrie im Schatten einer übermächtigen „Fridays for Future“-Bewegung fast der Garaus gemacht worden wäre.

Dieser Lockdown trifft erneut die ökonomisch hilflosesten Sektoren. Es handelt sich zumeist um Selbstständige und Familienbetriebe, die ihr ganzes Herzblut, ihre Ersparnisse und ihre Zukunft in das Unternehmen gesteckt haben. Allein im Gastgewerbe sprechen wir von rund 224.000 Betrieben, die jedoch mehr oder weniger am Rockzipfel des Staates hängen, abhängig von seinen Geldern und Zusagen. Die 2,4 Millionen Beschäftigten – „nur“ etwa fünf Prozent der Erwerbstätigen – sind heterogen und gewerkschaftlich kaum organisiert. Wer wird da schon auf die Straße gehen?

Die Verflechtungen mit anderen Branchen dürften so moderat sein, daß weitere Blessuren in Form eines sinkenden Bruttoinlandsprodukts überschaubar bleiben. Das ist anders als etwa bei der Automobilbranche, die starke Verbindungen zur Wertschöpfung anderer Branchen aufweist. Umgekehrt gibt es aber auch Branchen, welche praktisch unantastbar sind. Die Sozial- und Asylindustrie gehört dazu. So heißt es auf den Seiten des Bundesinnenministeriums, eine Ausnahme des Einreiseverbots für enge Verwandte von Drittstaatsangehörigen gelte nur bei Vorliegen eines zwingenden familiären Grundes, unter anderem: Geburten, Hochzeiten und Todesfälle. Galten aber nicht die (Groß-)Hochzeiten als Infektionsherde par excellence? Doch. Aber wenigstens in der veröffentlichen Meinung populäre Projekte wie die Zuwanderung werden auch in Covid-Zeiten nicht angetastet.

Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Ausgaben für Migranten – allein im Bundeshaushalt sind in diesem Jahr knapp 23 Milliarden Euro veranschlagt – fließt an soziale und integrative Einrichtungen, auch an Diakonie und Caritas. Im Tausch gegen den covid-resistenten Einnahmestrom erteilen die großen Kirchen dem Staat die christliche Absolution – Ablaßhandel 2.0.

Fassen wir zusammen: Die Ökonomie des „Lockdown light“ folgt der Logik des Opportunismus. Die Kultur- und Freizeitbranche ist quantitativ weniger bedeutsam als etwa Automobil und Einzelhandel und daher ein willkommenes Opfer der Strategie der Kontaktreduzierung. Bedingt durch den hohen Anteil kleiner Selbständiger fehlt die Organisationskraft und auch die innere Widerstandskraft, um gegen die Regierung vorzugehen. Die zu erwartenden richterlichen Aufhebungen einzelner Regeln werden zu spät kommen, um das November-Desaster abzuwenden. Mehr Arbeitnehmer und auch mehr Wähler wären von der Schließung ihrer Firmen oder der Schulen ihrer Kinder betroffen gewesen, so daß sich die Zahl der verärgerten Wähler in Grenzen halten dürfte.

Ein Nachwort zum Thema Auto. Da hat die Kanzlerin doch tatsächlich dazugelernt, denn immerhin werden dieses Mal die Autohäuser nicht dichtgemacht. Wie sie auf der Bundespressekonferenz eingestand, hatte sie völlig übersehen, daß zwangsgeschlossene Autohäuser keine Autos verkaufen und in der Folge die Produktion runtergefahren wird. Ihr Verlust an Bodenhaftung macht einem schon Angst.






Prof. Dr. Rainer Osbild ist Ökonom und Ordinarius an der Hochschule Emden/Leer.