© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Wegen Wirecard wird der Dax im Rekordtempo umgebaut
Verspätete Aktienkultur
Thomas Kirchner

Bausparkasse, Bundesschatzbriefe, Lebensversicherung, Sparbuch – so legten einst die Bundesdeutschen ihr Kapital an. Aktien kamen erst später hinzu, was man an der späten Einführung des Deutschen Aktienindex im Jahr 1988 erkennt, 92 Jahre nach der ersten Berechnung des Dow Jones in New York. Wie in seinem US-Pendant sind 30 Aktien im Dax repräsentiert. In der Praxis zählt der S&P 500, der 500 US-Aktien umfaßt. Im japanischen Nikkei sind 225 und im Londoner FTSE 100 Werte vertreten. Selbst der französische CAC 40 umfaßt zehn Firmen mehr als der Dax.

Mit dem MDax für mittelgroße Unternehmen hat die Deutsche Börse zwar schon 1996 versucht, einen breiteren Überblick mit weiteren 60 Firmen zu schaffen. Aber viele Anleger sehen den Index von Unternehmen mittlerer Größe als eine getrennte Anlageklasse. Internationale Anleger investieren in den Dax, nicht in den MDax. Durch die Begrenzung haben deutsche Unternehmen weniger Zugang zu internationalem Kapital – die geplante Dax-Ausweitung ist also sinnvoll.

Problematisch kann aber der Übergang vom alten Dax-30 zu einem erweiterten Dax-40 werden. Denn Anleger, die blind dem Index folgen, werden einen Teil der ursprünglichen 30 Titel verkaufen und in die neu hinzugekommenen Unternehmen investieren. Der Effekt wäre aber nicht so groß, wie es auf den ersten Blick aussieht, denn eine Vergrößerung um die nächstgrößeren zehn Werte würde das Volumen des Dax in Euro nur um etwa acht Prozent erhöhen. Deshalb wird sich auch an der zugrundeliegenden Zusammensetzung nichts ändern. Autoindustrie und Chemie werden dominant bleiben.

Ein weiteres Problem liegt in der Verkleinerung des MDax, der durch den Abgang seiner zehn Größten fast ein Drittel an Volumen in Euro einbüßen würde. Dies ließe sich durch Hinzufügen kleinerer Titel ausgleichen. Doch das würde die durchschnittliche Marktkapitalisierung seiner Unternehmen drücken, wodurch er wiederum im internationalen Vergleich in Richtung Index für Kleinunternehmen abdriften würde. Letztlich leidet der deutsche Kapitalmarkt an der Scheu des Mittelstands zum Börsengang. Es gäbe grundsätzlich genug große Unternehmen in Deutschland, um den Dax zu erweitern – wenn sie nur börsennotiert wären. An Aktienkultur mangelt es nicht nur bei Anlegern, auch bei Emittenten.

Daß eine Vergößerung des Dax jetzt vorgeschlagen wird, liegt an der Blamage durch die Aufnahme von Wirecard im September 2018. Die gleichzeitig geplante Verschärfung der Aufnahmekriterien ist sicherlich der Hauptgrund für die Veränderung, auch wenn die Vergrößerung für die meisten Diskussionen sorgt. Neue Kriterien wie geprüfte Geschäftsberichte und eine häufigere Überprüfung der Indexmitgliedschaft wären ohne den Wirecard-Skandal nicht im Rekordtempo möglich gewesen.