© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Perpetua, die Beständige
Biographie: Das Leben Gretha Jüngers, durch die Genderbrille aus weiter Ferne betrachtet
Dirk Glaser

Nichtsahnend strebte die 16jährige Schauspielelevin Gretha von Jeinsen am 9. Oktober 1922 dem Zentrum von Hannover und ihrem Schicksal zu, das dort in Gestalt eines hochdekorierten Offiziers auf sie wartete: „Ein wehender Militärmantel, eine Reichswehrmütze, ein schleppender Säbel. Am Kragenausschnitt, weithin leuchtend: ein blauer Stern. Darüber hinaus erblickte ich ein paar blitzende Augen, die sich bei meinem Näherkommen mit unwiderstehlicher Gewalt an mich hefteten und mich gleichsam in sich aufzunehmen schienen. Diesmal tat mein Herz einen gewaltigen Schlag, so heftig, um nach kurzem Stillstand wie mir schien, in einen wahren Trommelwirbel hinein zu geraten.“

Was macht ihre Biographin Ingeborg Villinger aus dieser Szene, der ersten Begegnung Gretha von Jeinsens mit dem Pour-le-mérite-Träger Ernst Jünger, den sie im August 1925 heiraten sollte und als dessen „Perpetua, die Beständige“ sie in die Literaturgeschichte eingegangen ist? Nicht weniger als den „erotischen Clash einer Wahlverwandtschaft“. Das „symbolische Kapital adliger Weiblichkeit“ trifft auf den Krieger, der nichts als „Sieg und hegemoniale Männlichkeit ausstrahlt“.

Klingt reichlich abgedroschen, aber eine im akademischen Betrieb der letzten Jahrzehnte mehr und mehr auf die exklusive Wahrnehmung von „Geschlechterverhältnissen“ gedrillte Politikwissenschaftlerin wie Villinger, ehedem Mitherausgeberin des Briefwechsels zwischen Gretha Jünger und Carl Schmitt, kann nun einmal nicht aus ihrer Haut. Statt, wie angekündigt, das Leben ihrer 1960 früh verstorbenen Heldin an der Seite eines „Jahrhundertschriftstellers“ (Heimo Schwilk) sowohl als „Spiegel“ zu nutzen wie auch als „Lehrstück der deutschen Politik- und Kulturgeschichte“ im Zeitalter der Weltkriege darzustellen, preßt sie es in blutleere Schablonen – unter weitgehendem Verzicht auf eigene Gedanken.

Über die Hälfte des Werkes füllen Zitate

Dabei treibt doch erst „die Vertiefung in das Subjekt, die Versenkung ins Besondere das Gesellschaftlich-Allgemeine hervor“ (Oskar Negt). Diese Vertiefung ist gescheitert, und zwar nicht aus Mangel an Quellen. Die standen en masse zur Verfügung und zeigen einmal mehr Gretha Jüngers großes, in den Erinnerungsbänden „Die Palette“ (1949) und „Silhouetten“ (1955) bewiesenes literarisches Talent, Menschen und Zeiten „eigenwillige Betrachtungen“ widmen zu können.

Weit über die Hälfte ihres Werkes füllen Zitate aus Korrespondenzen mit Freunden, und Villinger erhielt sogar Einblick in den offenbar märchenhaft dichten Ehebriefwechsel, der gerade zur Edition vorbereitet wird. Aber an fast jedes Briefzitat, vor allem an jene zahllosen Einlassungen, in denen die entschiedene NS-Gegnerin den Kriegs-alltag seit 1939 kommentiert, legt Villinger die Elle der in ihren Kreisen heute gültigen Verhaltensmaßstäbe an. 

Folglich läßt sie diese kluge Zeitzeugin weder auf den Leser wirken, um ihm originelle Einblicke in die Epoche zu vermitteln, noch will sie ihre im Feuer der Vergangenheitsbewältigung gehärteten Vor-Urteile, etwa über das Bildungsbürgertum im NS-Staat, daran überprüfen. Schlimmer noch: Es sind oft nicht einmal eigene Raster, die sie ihren Lektürefrüchten überstülpt. Sie bedient sich lieber und durchweg unkritisch bei dem, was der Modemarkt der Theorien so feilbietet.

Primär sind dies gängige Deutungen der „Geschlechterpolarität“. Ihnen fügt Villinger mit der Schilderung der während des Krieges – Hauptmann Jünger ließ sich in der Etappe „Paris-Babylon“ auf ernstere Liebeshändel ein  – in eine Krise geratenen, bis zuletzt periodisch schwersten Belastungsproben ausgesetzten Ehe Gretha Jüngers nur ein weiteres, „Geschlechterpolitik“  illustrierendes Beispiel hinzu. Für deren soziologischen Rahmen, die lebenslänglichen Herkunftsprägungen der einer verarmten Adelsfamilie entstammenden Gretha Jünger, greift Villinger dann auf Pierre Bourdieus nicht mehr taufrische Lektionen über „Habitus, Distinktion, symbolisches Kapital“ zurück, während sie Stephan Malinowski, den umstrittenen „Adelsexperten“ unter deutschen Historikern, bemüht, damit er ihr für Gretha Jünger ein „präzises Mentalitätsmuster“ strickt.

Weltpolitik als therapeutisches Rollenspiel

Ausgerechnet an die beständige „Nationalistin“, die 1939 den Krieg begrüßt, weil er um das „Deutsch-Sein im letzten und höchsten Sinne“ geführt werde, traut sich die emeritierte Politologin Villinger, die weder über ausreichende zeithistorische Kenntnisse noch über ein auch nur rudimentär entwickeltes Sensorium für Vergangenheit verfügt, selbst stehend freihändig heran. Weltpolitik versteht sie hier nach den Regeln für paartherapeutisches Rollenspiel: Unter Führung der „Nazis“ schüren die durch das Versailler Diktat „narzißtisch gekränkten“ Deutschen, die einzigen „Akteure“ (polnische Gewaltakte sind nur „angebliche“) auf der vor Friedenstauben wimmelnden internationalen Bühne, so lange „antipolnische und antifranzösische Ressentiments“, bis sie sich in Stimmung für den „Überfall“ geschunkelt haben.

Durchweg auf diesem Niveau spielt dieses maximal ahistorische „Lehrstück“ Villingers. Um mit Eugène Delacroix zu sprechen: „Es gehört zum Gewöhnlichen, immer auf der falschen Seite zu sein oder neben dem Wahren“ (Journal, 11. August 1850). 

Ingeborg Villinger: Gretha Jünger. Die unsichtbare Frau. Klett-Cotta, Stuttgart 2020, gebunden, 463 Seiten, Abbildungen, 26 Euro