© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Von Puppen und Menschen
Deutscher Buchpreis 2020: „Herzfaden“ von Thomas Hettche erzählt Zeitgeschichte in leisen Tönen
Dietmar Mehrens

Um 21 Uhr am 21. Januar 1953, zwanzig Tage nach der ersten offiziellen Sendung des deutschen Fernsehens, geht die Augsburger Puppenkiste auf Sendung.“ Mit so nüchternen Worten führt Thomas Hettche die Helden seines Romans zum kommerziellen Durchbruch. Und wenn nahezu jeder Deutsche, der vor dem Internet-zeitalter geboren ist (man könnte diese Ära auch Fernsehzeitalter nennen), sich unter Puppenkiste etwas vorstellen kann, dann läßt sich das auf dieses Datum zurückführen.

Was stellt er sich vor? Welche Figuren erstehen vor seinem geistigen Auge? Ein Urzeitwesen mit Sprachfehler namens Urmel und ein schwarzer Waisenjunge, der auf den Namen Knopf hört, ein König, eine Prinzessin, ein kleiner Prinz. Der König ist das Erdmännchen Kalle Wirsch, die Prinzessin Jim Knopfs Freundin Li Si und der kleine Prinz der Held aus dem gleichnamigen Kinderbuch von Antoine de Saint-Exupéry. Sie waren die großen Stars der Augsburger Puppenkiste. Und deswegen hat Thomas Hettche sie auch zu Helden seines neuen, wunderbar unsentimentalen Romans gemacht.

In der durch rote Schriftfarbe vom Text der Haupthandlung (blaue Schriftfarbe) abgehobenen Nebenhandlung dürfen sie alle noch mal die große Bühne betreten, diesmal allerdings die eines Romans. Ein Kunstgriff, mit dem sich Hettche vor Michael Ende verneigt, dem Autor der „Jim Knopf“-Bände, der im Roman auch einen kurzen Auftritt hat. In „Die unendliche Geschichte“ hatte Ende seine zwei Handlungsebenen, die reale Welt und die Handlung, die sich im Märchenland Phantásien abspielt, durch die Schriftfarben rot und grün unterscheidbar gemacht. Rot ist in Hettches Roman die Farbe für eine bizarre Zwischenwelt, in der die Marionetten der Augsburger Puppenkiste gleichberechtigt neben Menschen aus Fleisch und Blut agieren.

Prosa-Miniaturen in sprachlicher Präzision

Ein junges Mädchen gerät nach einer Theateraufführung durch eine kleine Holztür auf einen dunklen, verzauberten Dachboden. Hier begegnet sie den zu Leben erwachenden Holzpuppen und der Frau, die sie geschaffen hat: Hannelore Oehmichen, genannt Hatü, geboren 1931.

Und um Hatü geht es auch im großen blau gedruckten Rest des Romans. In kurzen, episodenhaft angelegten Prosa-Miniaturen von schillernder sprachlicher Präzision erzählt Thomas Hettche die Geschichte der Augsburger Puppenkiste bis zu ihrem Durchbruch im deutschen Fernsehen aus der Sicht von Hannelore, der jüngeren der beiden Töchter des Puppenkisten-Erfinders Walter Oehmichen. Der war Schauspieler und später während der NS-Zeit Oberspielleiter am Augsburger Theater. Inspiriert von einer Puppenbühne, auf die er während des Krieges in einem französischen Klassenzimmer stieß, bastelte Oehmichen sich kleine Pappkameraden und unterhielt damit seine Kameraden in Uniform. Es wird sein ganz besonderes Kriegserbe. Er schenkt seinen Töchtern zwei Holzfiguren, zwei der Heiligen drei Könige, zu Weihnachten, und der Funke springt über, vor allem bei Hatü. Die Oehmichens zimmern sich ihr eigenes Theater, den „Puppenschrein“, unterhalten damit zunächst Freunde und Verwandte daheim. Die Kiste zieht Kreise. Nach Kriegsende beginnt ihr Siegeszug. Die mobile Theaterkiste, so Autor Hettche, „aus der alles ausgepackt und wieder eingepackt werden kann, muß man sich wirklich vor dem Hintergrund des vollkommen zerstörten Augsburg vorstellen. Das Projekt ist natürlich ein Projekt, das aus den Trümmern entstanden ist.“ 

Auf den unsichtbaren Herzfaden komme es an, erklärt Walter seinen Töchtern, während Deutschland am Gängelband der NS-Propaganda zappelt. Denn mit ihm führe nicht der Spieler die Puppe, sondern diese ihn: „Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht.“ Hettche macht dieses Bild zum etwas zu penetrant inszenierten Leitmotiv seines Romans. 

Ansonsten drängt er sich eher nicht auf: Lakonisch und unpathetisch, mit sicherem Gespür für Zeitkolorit, für Teile, die für ein Ganzes stehen, reiht er Momentaufnahmen aneinander, stellt Hannelore Oehmichens biographische Stationen vor die wechselnden Hintergründe der Zeitgeschichte, die er austauscht wie Bühnenbilder des von ihm porträtierten Marionettentheaters: Glasscherben auf dem Bürgersteig nach der Pogromnacht 1938, die nette Frau Friedmann, die plötzlich weg ist, das Thema „Rassenschande“ in der Schule, eine Bombennacht, Hatü beim Figurenschnitzen während der Kinderlandverschickung, das Wühlen nach fürs Theater tauglichen Gegenständen in den Trümmern des zerbombten Augsburg, die erste Aufführung in einem Lazarett, eine flammende Nachkriegsrede des Schriftstellers Ernst Wiechert, die Puppenkiste als Wirtschaftswunder-Werbekiste auf einer Messe, eine Nachkriegs-Kunstausstellung und der erste Nachkriegskuß, das erste Schäferstündchen mit dem späteren Ehemann, Hochzeit, Schwangerschaft, schließlich der Karrierestart für die aufwendigen Puppenkiste-Mehrteiler des Hessischen Rundfunks. „Herzfaden“ erzähle vom „Verlust von Unschuld“ und „Phantasie“, aber „auch von ihrer Rückeroberung“, würdigte Jury-Mitglied David Hugendick das Buch. Die Zeiten wandeln sich, die Begeisterung für die Marionetten bleibt.

Ein nicht lustiger Kasperl in der Zwielichtzone

Die zwischengeschalteten rot gedruckten Episoden vom düsteren Dachboden, mit denen Hettche der Magie des Märchens nachspüren wollte, sorgen nicht dafür, daß sich der Pulsschlag des Lesers spürbar erhöht. Sie sind in der Endbilanz wenig mehr als ein origineller Gag. Nicht immer gelingt es, sie stimmig mit der Haupthandlung zu verschränken. An einer Stelle aber ist Hettche genau das auf virtuose Weise gelungen: Oben in der Zwielichtzone treibt nämlich ein überhaupt nicht lustiger Kasperl sein Unwesen. Ein furchteinflößender Anti-Kasper ist das mit einem bösen, breiten Grinsen. Kasperls Geheimnis, das schließlich dem Dunkel entrissen wird, ist ein kleiner Geniestreich des Autors.

Bemerkenswert auch Matthias Beckmanns liebevolle Zeichnungen von Puppenkiste-Figuren.

Viele Kritiker sahen in „Herzfaden“ den besten der sechs in die Endauswahl für den Deutschen Buchpreis gekommenen Romane. Die Auszeichnung wäre schon deshalb verdient gewesen, weil Hettche dieses Kunststück bereits zum dritten Mal gelungen ist: „Woraus wir gemacht sind“ (2006) und zuletzt der sensationell akribisch recherchierte historische Roman über die „Pfaueninsel“ (2014), der die gleiche Montagetechnik anwendet wie „Herzfaden“, standen ebenfalls auf der Shortlist.

Daß Hettche auch dieses Jahr nicht zum Autor des besten Romans gekürt wurde, hat zwei Gründe: Erstens ist es ungeschriebenes Gesetz beim Buchpreis, daß Werke, denen ohne die Auszeichnung kein so großer Publikumserfolg beschieden wäre, den Vorzug erhalten (weswegen etwa „Atemschaukel“ der damals frischgebackenen Nobelpreisträgerin Herta Müller 2009 das Nachsehen hatte gegenüber Kathrin Schmidts holpriger Seelenerkundung „Du stirbst nicht“). Zweitens waren fünf der sieben Juroren Jurorinnen, was Anne Webers Chancen, sich mit ihrem feminismusaffinen „Heldinnenepos“ gegen den Favoriten durchzusetzen, zumindest nicht verschlechtert haben dürfte. Man darf gespannt sein, welches der beiden Bücher am Ende die Leser am meisten goutieren.

Thomas Hettche: Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, gebunden, 288 Seiten, 24 Euro