© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Hier wird zensiert!
Der Brite Paul Coleman warnt davor, daß die zu vage „Haßrede“-Gesetzgebung das Tor für eine freie Meinungskultur im Netz zunehmend abschnürt
Sandro Serafin

Forderungen nach verschärften Maßnahmen gegen „Haß und Hetze“ sind in unserer Zeit omnipräsent. Zweifelhafte Bekanntheit erlangte in diesem Kontext vor allem das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das immer wieder zur Löschung harmloser Beiträge im Internet führt. Als Paul Coleman 2012 sein englischsprachiges Buch „Zensiert“ über europäische „‘Haßrede’-Gesetze“ veröffentlichte, gab es das NetzDG noch gar nicht. Es wurde erst 2017 verabschiedet. Dennoch kam der britische Menschenrechtsanwalt schon damals zu dem Schluß, daß sich Europa auf einem gefährlichen Weg befinde.

Interpretationsspielraum durch vage Formulierungen

In diesem Jahr nun hat Coleman auch eine deutsche Version seines Buchs auf den Markt gebracht. Die Lage der Redefreiheit habe sich weiter „massiv verschärft“, schreibt er im Geleittext dazu – und hebt unter anderem das NetzDG hervor. Dieses sei „vermutlich eines der folgenreichsten ‘Haßrede’-Gesetze der Neuzeit“. Im Kern des Buches spielen Gesetze gegen „Haß im Netz“ allerdings keine Rolle. Coleman analysiert vielmehr allgemein und im internationalen Kontext Ursprung, innere Logik und Gefahren von Gesetzen, die bestimmte Äußerungen unter Strafe stellen. Darunter faßt er auch Paragraph 130 des deutschen Strafgesetzbuchs über die „Volksverhetzung“. Dabei stellt der Autor schon grundsätzlich in Frage, ob solche Gesetze überhaupt einen Sinn ergeben. Es sei weder belegt, daß Haßrede zu Gewalt oder – in den Worten deutscher Politiker – „Worte zu Taten“ führen, noch daß „‘Haßrede’-Gesetze“ dies überhaupt verhindern könnten. Selbst wenn dies der Fall wäre, hält Coleman derlei Rechtsnormen für brandgefährlich. Treffend analysiert er den Kern des Problems, der in den – nach Einschätzung des Autors – „bewußt“ vagen Formulierungen liegt, die eine rechtsstaatliche Anwendung nicht zuließen. Haß sei letztlich „das, was die Leute dafür halten“, schreibt er und warnt, daß Interessengruppen die Gesetze mißbrauche würden, um unliebsame Meinungen mundtot zu machen.

Haß-Gesetzgebung umfaßt immer mehr Bereiche

Seitenweise listet Coleman Beispiele aus unterschiedlichen Ländern auf, in denen sich Menschen meist völlig harmlos äußerten, es daraufhin aber mit der Polizei oder Gerichten zu tun bekamen, teilweise sogar verurteilt wurden. Selbst wenn es nicht so weit komme, entstehe in jedem Fall eine „Kultur der Zensur“, da schon durch bloße Ermittlungen „ein Stigma erzeugt“ werde. Die meisten der im Buch angeführten Äußerungen entstammen dem konservativ-christlichen Bereich, drehen sich etwa um Kritik am Islam oder Homosexualität. Vereinzelt führt der Autor auch Beispiele an, die aus dem linken Spektrum kommen. Streckenweise erscheint das Buch wie eine Fallsammlung, die zwar anschaulich, aber auch etwas zu ausgedehnt ist. 

Interessant wird es indes da, wo Coleman auf den Ursprung der modernen Haß-Gesetzgebung eingeht. Hier liegt dann auch der eigentliche Mehrwert. Die Wurzeln des Problems verortet der Autor in der Zeit ab den späten 1940er Jahren auf völkerrechtlicher Ebene, etwa im „Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung“. Coleman zeichnet die Entstehungsgeschichte dieser Verträge nach und arbeitet so heraus, wie die kommunistischen Diktaturen Osteuropas und allen voran die Sowjet-union gegen den Widerstand westlicher Demokratien internationale Normen erfolgreich zu Lasten der Redefreiheit beeinflußten. Die Ostblock-Staaten gingen zugrunde, doch die völkerrechtlichen Normen entfalten ihre Wirkung bis in die Gegenwart. Mehr noch: Ausgerechnet die liberalen Nationen, die einst Widerstand leisteten, wendeten entsprechende Gesetze heute „mit größter Begeisterung“ an, wie Coleman bemerkt.

Auch wenn der Autor selbst einen positiven Gegenentwurf liefert, spricht aus seinem Buch doch die Prognose einer Zukunft, die für die Meinungsfreiheit ungemütlich werden könnte. „Sobald eine Regierung beginnt, Einschränkungen der Redefreiheit gesetzlich zu regulieren, gibt es keinen objektiven Punkt mehr, an dem dies endet“, lautet der logische Schluß. Konkret prophezeit Coleman unter anderem, daß immer mehr Diskriminierungsformen – etwa wegen des Alters – zum Gegenstand von Haß-Gesetzgebung werden und die Schwelle zu dem, was als Haß gesehen wird, sinkt.

Keine dieser Warnungen ist aus der Luft gegriffen. Die entsprechenden Tendenzen sind bereits zu erkennen. Für Coleman ist klar: Europa hat sich auf „einen illiberalen und gefährlichen Weg“ begeben. Er plädiert für die Kraft der Freiheit. Auch wenn sein Buch für den sowieso schon kritischen Beobachter der Haß-Gesetzgebung im Kern keine wirklich neuen Erkenntnisse liefert: Es macht deutlich, daß das Problem weit über das NetzDG hinausgeht.

Paul Coleman: Zensiert. Wie europäische „Haßrede“-Gesetze die Meinungsfreiheit bedrohen. Fontis Verlag, Basel 2020, gebunden, 288 Seiten, 18 Euro