© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Artenschutz ist Virenschutz
Aus weltweiten Forschungen zu Zoonosen wurden jahrzehntelang keine Lehren gezogen
Christoph Keller

Ende Oktober 2019 richtete das Auswärtige Amt zusammen mit der US-Stiftung Wildlife Conservation Society (WCS) in Berlin eine internationale Konferenz aus, die sich unter dem Titel „One Planet, One Health, One Future“ mit der Frage befaßte: „Wie breiten sich Infektionskrankheiten als Folge menschlichen Eindringens in die Lebensbereiche von Wildtieren aus?“ Schon drei Monate später haftete dieser Frage nicht mehr das Odium des rein Akademischen an: Atemschutzmasken waren ausverkauft, die Lufthansa stellte ihre Flüge nach China ein – nur Politik und Medien spielten die Gefahr einer Corona-Pandemie noch herunter.

Bis dahin sei die enorme Relevanz des Tagungsthemas aber nur den vielen hochkarätigen Wissenschaftlern und den wenigen Gesundheitspolitikern klar gewesen, die daran teilnahmen. Niemand von ihnen sei daher von Covid-19 überrascht worden, wie die WCS-Programmmanagerin Kim Grützmacher der Umweltjournalistin Barbara Erbe erzählt (Welt-Sichten, 6/20). Würden doch Corona-Viren „seit Jahren als ganz heiße Kandidaten“ für eine Übertragung vom Tier auf den Menschen gehandelt.

„Eindrucksvolle Bestätigung unserer Befürchtungen“

Sie selbst habe am Robert-Koch-Institut (RKI) darüber geforscht und ihre Doktorarbeit als Veterinärmedizinerin über die Übertragung von Atemwegserregern zwischen Menschen und wildlebenden Tieren geschrieben. Das Auftreten von Sars-CoV-2 empfindet Grützmacher als „eindrucksvolle Bestätigung unserer Befürchtungen“. Aber offensichtlich hat die Politik alle Warnsignale der vergangenen fünf Jahrzehnte übersehen.

So lange bemühen sich Forscher um die Aufklärung und Eindämmung von Zoonosen, der von Menschen auf Tiere und umgekehrt übertragbaren Infektionskrankheiten. Das Problem scheint gewesen zu sein, daß, wie es Catarina Pietschmann in ihrer Reportage über die Zoonose-Forschungen am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig (MPI) und am RKI formuliert, daß bisher fast alle Epidemien aus dem Tierreich in der westlichen Öffentlichkeit nur kurze Aufmerksamkeit erregten.

Das überrascht nicht, denn mit Ausnahme der Immunschwächekrankheit Aids, die auch Millionen im globalen Norden erfaßte, wüteten Zoonosen bislang in der exotischen Ferne Asiens und Afrikas (Max Planck Forschung, 2/20). Das 1969 bei einer amerikanischen Missionsschwester in Nigeria entdeckte Lassa-Fieber wird beispielsweise von einem Arena-Virus ausgelöst, der in Nagetieren vorkommt. Jährlich werden etwa 300.000 Neuinfektionen vermeldet – meist in Westafrika.

Selten werden eingeschleppte Fälle in Europa oder Nordamerika festgestellt. Eine Impfung gegen die bei Schwangeren oder Vorerkrankten oft tödliche Krankheit gibt es bislang nicht. Der 1983 entdeckte HI-Virus, der bislang weltweit 41 Millionen Todesopfer forderte, brachte das Thema Zoonosen breit in die Medien. Im Gleichschritt mit der Globalisierung geht es daher Schlag auf Schlag: Die seit Ende der neunziger Jahre grassierende Vogelgrippe H5N1 verlief noch relativ harmlos. Nicht so aber die zwar auf Westafrika beschränkte, jedoch dort zu 80 Prozent tödlich endende Ebola-Epidemie, die 2014 die Region bis in den Kongo hinunter nochmals heimsuchte.

2003 und 2011 stellten sich die Lungenkrankheiten Sars (Severe acute respiratory syndrome) und Mers (Middle East respiratory syndrome) mit ebenfalls vergleichsweise moderaten Opferzahlen vor. Das Zika-Virus, 1947 erstmals bei Rhesusaffen entdeckt, ist nicht tödlich. Es führt aber bei Föten zu schweren Mißbildungen. 2007 gab es erste Ausbrüche in Mikronesien. 2013 wurden Zika-Fälle in Französisch-Polynesien registriert. 2015 waren Afrika und Lateinamerika dran, ein Jahr später waren auch die Südstaaten der USA betroffen.

Bei allen diesen Krankheiten spielt der Wirtswechsel der Erreger (Viren, Bakterien, Pilze, Würmer oder infektiöse Proteine) die zentrale Rolle. Ihm sind MPI und RKI seit langem im gemeinsamen „Schimpansen-Projekt“ auf der Spur. Da diese Menschenaffen 99 Prozent ihres Erbguts mit Menschen teilen, sind sie auch deshalb ein ideales Studienobjekt, weil es in ihrer Population im Taï-Nationalpark (Elfenbeinküste) gehäuft Atemwegserkrankungen zu registrieren waren. Hier forscht die MPI-Abteilung Primatologie seit 1997. 1999 kam es zur heftigsten Infektionswelle, bei der ein Fünftel der Schimpansen starb.

Seitdem gab es mehrere kleine und große Krankheitsausbrüche. Dabei konnte der Veterinärmediziner Fabian Leendertz (RKI) erstmals das 1967 entdeckte Coronavirus HCoV-OC43 nachweisen, das vom Menschen stammt und bei ihm nur milde Symptome hervorruft. Das Immunsystem der Affen hielt dem neuen Erreger aber nicht stand. Im Normalfall erkranken die Schimpansen jedoch, weil andere Tiere sie infizieren. Flughunde und Fledermäuse tragen eine Vielfalt an Erregern in sich, die sie über große Strecken verbreiten.

Erreger auf dem Sprung vom Tier zum Menschen

Als Insektenfresser haben Fledermäuse zwar keinen mit Schimpansen überlappenden Speiseplan, zu Kontakten kommt es trotzdem. Etwa durch die Gewohnheit der Affen, in hohlen, von Fledermäusen frequentierten Bäumen zu schlafen. Um das reiche Spektrum an Erregern, für die Schimpansen so empfänglich sind wie Menschen, zu erfassen, verfügen die Forscher inzwischen über ein einmaliges Datenarchiv, bestückt mit 50.000 Kot- und 40.000 Urinproben sowie mit Geweben von Autopsien und Erbgutproben, die in Kühlräumen von RKI und MPI lagern.

„Erreger, die wir bei ihnen finden, könnten also auf dem Sprung zu uns sein“, erklärt Leendertz die aufwendige Sammelarbeit, die es ermögliche, die Tiere als Indikatoren für neue potentiell gefährliche Keime zu nutzen. Es sei für ihn nur eine Frage der Zeit, bis der sicher schon unter 700.000 unbekannten, für eine Zoonose in Betracht kommenden Viren bereitstehende Nachfolger von Sars-CoV-2 diesen Sprung wagt.

Der Mensch, davon sind Kim Grützmacher, Leendertz und sein MPI-Kollege, der Verhaltensforscher Roman Wittig überzeugt, tue alles, um ihm den Weg zu bereiten. Die Politik habe, trotz Aids, Ebola, Sars oder Mers, nicht begriffen, daß Artenschutz gleich Virenschutz ist. Sonst wäre nicht zu verstehen, warum Menschen immer tiefer in die Lebensräume von Wildtieren vordringen, um Regenwälder abzuholzen und Savannen zu besiedeln. Warum werde die illegale Jagd auf Wildtiere wie Schimpansen nicht effizienter bekämpft und der Buschfleischverzehr in Afrika oder Asien nicht unterbunden?

Warum durften Wildtiermärkte als wahre „Virenumschlagplätze“ nach dem Ende der Sars-Epidemie wieder öffnen? Hätte man frühzeitig die längst erreichten Grenzen des Wachstums und der Naturvernutzung respektiert, wäre der Menschheit die jetzige Corona-Pandemie wohl erspart geblieben.

The WCS Health Programs: oneworldonehealth.wcs.org

Bericht „Viren aus der Wildnis“, in Max Planck Forschung, 2/20:

 mpg.de

 www.mpg.de

 www.wildchimps.org/