© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Der Flaneur
Auf dem Markt
Elke Lau

Wir wundern uns über den jungen Mann, der alle paar Meter vom Fahrrad springt, die Uferböschung am Ryck zwischen Greifswald und Eldena hinunterklettert und irgend etwas zu suchen scheint. „Wollen Sie die Fische mit Händen fangen?“ fragen wir.

Der gutgekleidete Mittzwanziger schüttelt den Kopf und deutet auf einen Plastikbehälter, der prall gefüllt auf dem Gepäckträger seines edlen, gepflegten Drahtesels verstaut ist. „Nein, ich sammle jeden Montag das Leergut der trinkfreudigen Angler auf. Die sind zu faul, die Flaschen zurückzutragen. Sie werden es kaum glauben, aber dieser eine Morgen pro Woche bringt mir 30 bis 50 Euro ein, fast 1.000 befinden sich schon auf dem Sparbuch meiner kleinen Tochter.“ 

„Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“ frage ich unsicher. „Transe“, lautet die Antwort.

Der Weg zum Markt führt an einer Grünanlage vorbei. Ein grünes, etwa 15 Zentimeter langes Plastikkrokodil liegt neben einer Bank. Ich nehme es mit. Der Markt ist heute gut besucht, aber der Fischstand unbesetzt. Vor den Auslagen hüpft ein etwa 15jähriges Mädchen – oder ein Junge? – auf und ab, Mund und Nase vorschriftsmäßig verhüllt. „Der Verkäufer ist auf dem Rathaus, er kommt gleich wieder“, sagt sie, als sie meinen suchenden Blick bemerkt. Ihr Anblick ist gewöhnungsbedürftig: Der Schädel an den Seiten rasiert und tätowiert, der langhaarige, grüngefärbte Mittelstreifen endet mit einem Pferdeschwanz. Braune Augen schauen mich offen und zutraulich an. „Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“ frage ich unsicher. „Transe“, antwortet der Teenager selbstbewußt, „in ein paar Jahren lasse ich mich operieren und bin dann ein Mann.“ Sie nimmt die Maske ab. „Sehe ich nicht eher wie ein Junge aus?“ Ich mustere sie genauer. „Ja, eigentlich schon ...“

 „Das freut mich, daß sie das zugeben.“ Gegen meine Überzeugung fasziniert mich ihre kindliche Unbekümmertheit. Die Begegnungen versetzen mich in eine nachdenkliche Stimmung. Zum Glück werde ich vom Krokodil in die Normalität geholt. Aber was ist schon normal?