© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/20 / 13. November 2020

Tödlich endende Versäumnisse
Österreich: Eine lange Liste des Versagens machte in Wien den islamistischen Terroranschlag möglich / FPÖ fordert Rücktritt des Innenministers
Jörg Sobolewski

Als am Abend des 2. November in Wien die ersten Schüsse fielen, war man im Internet bereits kurz darauf nahezu live dabei. Anwohner und Passanten sorgten mit ihren Mobiltelefonen für einen stetigen Nachschub an digitalen Augenzeugenberichten. Das wichtigste Thema dabei: Wie konnte dieser Anschlag nach Paris und Nizza passieren? 

Hinweise auf die Radikalisierung des Täters gab es schon länger. Bereits vor über einem Jahr warnten die türkischen Sicherheitsbehörden ihre Kollegen in Wien vor dem Täter, Kujtim Fejzulai. Dieser hatte 2018 erfolglos versucht, sich dem Islamischen Staat anzuschließen, und wurde von der Türkei im Januar 2019 nach Wien abgeschoben. 

Dort wurde der Albaner zu 22 Monaten Haft verurteilt, die nach 11 Monaten zur Bewährung ausgesetzt wurden. Justizministerin Alma Zadic (Grüne) verteidigte die Haftaussetzung, nur so sei es rechtlich möglich gewesen, Fejzulai „weiter bei der Resozialisierung im Auge behalten zu können“. 

Doch dabei kam es wohl zu wiederholten Versäumnissen seitens der österreichischen Verfassungsschützer. So alarmierten im Sommer 2020 slowakische Polizeibehörden ihre Wiener Kollegen, weil Fejzulai vergeblich versucht hatte, in der Slowakei Munition zu kaufen. Die Meldung versickerte, und der Verfassungsschutz stellte sogar die vorherige Beobachtung des späteren Täters ein. Für Ex-Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) ein Grund, Amtsinhaber Karl Nehammer (ÖVP) ein Versagen in der Terrorabwehr vorzuwerfen. „Unter den Augen des Verfassungsschutzes habe der Täter seinen Anschlag vorbereiten können“, so Kickl. 

Wie die Tatwaffe, eine Zastava M70, ein Derivat der sogenannten Kalaschnikow, in die Hände von Fejzulai gelangte, ist bisher noch ungeklärt. Experten verweisen jedoch auf den großen Vorrat auf dem Balkan, wo über sechs Millionen Kleinwaffen im Umlauf sein sollen. Die meisten davon seien in den Bürgerkriegswirren der neunziger Jahre „vom Lkw gefallen“, wie der Sicherheitsexperte Georg Krause gegenüber der JF erklärt. 

Bereits seit Jahren warnen europäische Sicherheitsbehörden vor der schieren Menge an Kriegsgerät auf dem Balkan. Allein im Kosovo sollen in privaten Händen über 400.000 unregistrierte Waffen kursieren. Syndikate des illegalen Verbrechens schmuggeln die Waffen in den Westen. Kosovos langjähriger Präsident, Hashim Thaçi, wurde erst kürzlich in einem Report des Europarats als Kopf eines Waffenschmugglerrings bezeichnet. 

Weitere Spuren des Attentäters führen auch in die Nachbarländer. In den Monaten nach seiner Haftentlassung im November 2019 hatte Fejzulai Kontakt zu Islamisten aus der Schweiz, aus Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bremen. Zwei von ihnen hatten bei einem Wienbesuch im Juli 2020 bei ihm übernachtet, wie das Bundeskriminalamt mitteilte. Darüber informierte das Wiener Landesamt für Verfassungsschutz die deutschen Kollegen, aber offensichtlich nicht das zuständige Vollzugsgericht in Krems, das die vorzeitige Haftentlassung hätte widerrufen können. Auch eine erneute Observation erfolgte nicht. 

Alles Versäumnisse, die nun zu Rücktritten in der Wiener Polizeiführung führten. Dennoch fordert die Opposition den Rücktritt des Innenministers. Die Vermutung der FPÖ: Der Täter habe „Kenntnis erlangt von unmittelbar bevorstehenden Razzien in der Islamistenszene“ und habe diesen zuvorkommen wollen.