© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/20 / 13. November 2020

Die Wertschöpfungskette in der Hand
Einzelhandel: Mit Selbstproduktion durch konzerneigene Firmen wollen Discounter mehr Gewinn erzielen
Paul Leonhard

Zu teuer das Produkt, zu aufmüpfig schien die rheinische Traditionsfirma – und schon war „Haribo“ bei Lidl nicht mehr gelistet. Die Kunden waren nur kurz schockiert. Sparfüchse griffen zur Lidl-Alternative „Sugarland“, nur wenige haben wegen der fehlenden Marke im Süßwarenregal den Discounter gewechselt. Aldi erkannte seine Chance – aber die nächste Filiale war in der Regel weit weg. Der Rausschmiß des Mittelständlers Haribo war ein Signal an alle unabhängigen kleinen und mittleren Unternehmen, sich nicht mit dem größten Handelskonzern Europas anzulegen.

Am Kauf von Waren des täglichen Bedarfs kommt keiner vorbei, und wie sehr sich gerade die preiswertesten Artikel – von der abgepackten Schnittwurst  über Milchprodukte bis zur Schokolade – verteuert haben, schockiert jeden, der zufällig einen ausgeblichenen Kassenbon aus den Vorjahren findet. Aktuell bluten vor allem die Zulieferer. Um ihren Gewinn zu maximieren, öffentlich nennen sie es Qualitätssicherung, setzen die Ketten auf eine Vertiefung der vertikalen Produktion – sprich: Herstellung durch konzerneigene Firmen.

Einstieg in die Agrarproduktion

Aldi-Süd beispielsweise betreibt zwei Kaffeeröstereien, zählt zu den drei größten der Branche in Deutschland und stellt inzwischen sogar für die Münchner Familienfirma Alois Dallmayr Kaffeepads her. Rewe verfügt nicht nur über eine eigene Blumenerdeproduktion, sondern vor allem über vier eigene Fabriken für Fleisch- und Wurstwaren – Umsatz rund 600 Millionen Euro – sowie eine eigene Großbäckerei. Edeka gehören 16 Backbetriebe, 17 Fleischwerke, eine Weinkellerei und eine Fruchtsaftproduktion. Damit letztere kontinuierlich versorgt werden kann, wurde 2017 eine 200 Hektar große Bio-Obstplantage in Mecklenburg-Vorpommern erworben. Auch bei einer Molkerei in Bayern wurde sich eingekauft.

„Discountchampion“, so die Wirtschaftswoche, ist aber die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland. Der in der Audi-Stadt Neckarsulm beheimatete Handelskonzern – mit einem Gesamtumsatz von 113 Milliarden Euro weltweit die Nummer vier – produziert inzwischen viele der umsatzstärksten Produkte in Eigenregie. Erst im September folgte Schwarz dem Vorbild von Aldi-Süd und investierte in den Bau einer neuen Kaffeerösterei, die ab 2022 jährlich mehr als 50.000 Tonnen Filter- und Bohnenkaffee herstellen soll.

Alles fing vor 14 Jahren an, als Lidls Wasserlieferant, die MEG in Weißenfels, in finanzielle Schwierigkeiten geraten war und ein Notverkauf an einen Finanzinvestor drohte. Kurzerhand erwarb Schwarz den Getränkeproduzenten aus Sachsen-Anhalt, der jetzt jährlich 3,4 Milliarden Flaschen mit Saskia-Wasser und Freeway-Brause für Lidl füllt und damit einer der größten Erfrischungsgetränkeproduzenten Deutschlands ist. Auch Backwaren, Schokolade und Speiseeis produziert Lidl inzwischen selbst.

Die Aldi-Erben haben im Frühjahr – nach Werbung und Einkauf – begonnen, auch die Eigenmarken von Nord (Essen) und Süd (Mülheim) zusammenzulegen. Die Mitbewerber verstanden es als Kampfansage, denn auch die Verkaufspreise sollten sinken. Bis zum Jahresende werden zwischen 100 und 150 Produkte aus dem Angebot verschwinden. Darunter einige Waren, die probeweise ins Sortiment genommen worden waren und nun mangels ausreichender Nachfrage wieder aussortiert werden.

Aber auch Verpackungsgrößen ändern sich. So verschwinden bei Toiletten- und Küchenpapier kleinere Packungsgrößen, weil die angeblich nicht gefragt sind. Die Eigenmarke „Kokett“ gibt es nicht mehr als Zweierpackung, auch das Aus für das Mineralwasser Aqua Plus mit Fruchtgeschmack und den Westminster-Eistee scheint beschlossen. Hintergrund für diese Entscheidungen ist nach Ansicht von Marco Atzberger, Geschäftsführer des Kölner Handelsinstituts EHI, daß die „Supermärkte zunehmend erfolgreicher werden“ und die Discounter immer mehr unter Druck geraten: „Aldi reagiert darauf mit mehr Markenartikeln, einem modernisierten Ladenbau und jetzt mit einer effizienteren Beschaffung.“

„Damit verpulvern Sie nicht ihr Geld“

Rewe ist seit 40 Jahren für seine nach eigenen Angaben preiswerten Eigenmarken mit der schlichten Aufschrift „Ja“ bekannt. Das Sortiment umfaßt etwa 800 Produkte. Neu ist, daß das Unternehmen diese Produkte vom 12. Oktober bis zum 1. November im Rahmen der Kampagne „Ich sag ja!“ aggressiv beworben hat. Nach Angaben von Marketing-Leiter Clemens Bauer war das Ganze „nur der Auftakt für eine ganze Reihe weiterer Aktionen“.

Rewe geht damit in eine Richtung, für die bereits Aldi und Lidl hart kritisiert worden waren: dem Vergleich von Markenprodukten mit Eigenmarken-Artikeln, um preis- und qualitätsbewußten Kunden zu zeigen, wieviel günstiger Eigenprodukte sind. „Damit verpulvern Sie nicht ihr Geld“, hieß es damals bei Aldi-Süd. Ob diese Aktion tatsächlich zu Lasten der Markenproduzenten ging, ist umstritten. Allerdings klagten einige, daß zwar Lidl die Preisvorstellungen weitgehend akzeptiert habe, eine Listung bei Aldi aber fallende Preise in allen Supermärkten bedeutet habe.

Aldi und Lidl erzielen heute zusammen knapp 60 Prozent der Handelsmarkenumsätze in Deutschland, Lidl davon knapp ein Viertel mit selbst hergestellten Produkten, hat Marktforscher Hermann Sievers berechnet. Wachstum gehört zum Konzept. Kaufland ist – falls das Bundeskartellamt zustimmt – dabei, mehr als hundert Märkte des bisherigen Konkurrenten Real zu schlucken. Die Schwarz-Gruppe will, nach der 2017 gestarteten, aber schwierigen und teuren Markteroberung an der US-Ostküste, Lettland und Estland erobern. Damit wäre Lidl dann EU-weit vertreten.

Damit steigt aber auch die Menge an zu produzierenden Standardprodukten. Und um diese mit gleichbleibender Qualität anbieten zu können, setzten die Konzerne, so Sievers, auf eine „kontinuierliche und damit effiziente Herstellung fast ohne Absatzrisiko“ – im eigenen Unternehmen. „Wenn wir registrieren, daß die Versorgung mit einem unverzichtbaren Artikel in hoher Qualität dauerhaft schwierig werden könnte, prüfen wir, ob eine Produktion in Eigenregie in Frage kommt“, zitiert die Wirtschaftswoche Jörg Aldenkott, Chef der Schwarz-Produktion.

Sprich: Am liebsten ist den Handelsriesen, wenn die ganze Wertschöpfungskette bei stabil lukrativen Produkten in der eigenen Hand konzentriert ist. Den mittelständischen Produzenten bleibt nur noch übrig, sich auf Nischen- und regionale Produkte zu spezialisieren. Wie schnell die Konzerne Lieferverträge aufkündigen und auf eigene Produktionsanlagen setzen können, hatte die Schwarz-Gruppe vor drei Jahren gezeigt, als sie für die Branche vollkommen überraschend zu Lasten der bisherigen Lidl-Lieferanten wie DMK, Eisbär oder Ysco eine eigene Eisproduktion aufbaute.

DMK mußte daraufhin zwei Werke schließen. Inzwischen entfallen fast 40 Prozent der Erlöse der deutschen Eiscremeverkäufe von jährlich rund 1,5 Milliarden Euro und 60 Prozent der Menge auf Eigenkreationen der Handelskonzerne. Selbst renommierte Markenhersteller wie Langnese und Mövenpick drohen dabei auf der Strecke zu bleiben.

EHI Retail Institute:  www.ehi.org