© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/20 / 13. November 2020

Angst essen Seele auf
Alltag: In seinem Begehren, vor allen Ungewißheiten und Störungen geschützt zu werden, versagt der Bürger vor dem Leben
Eberhard Straub

Ordnung und Freiheit und wie beide miteinander zu vereinbaren sind, davon handelt die Geschichte der europäischen Völker seit der klassischen Antike. Freiheit setzt selbstbewußte, mutige und besonnene Freie voraus. Deshalb galten Furcht und Angst als Zeichen der Schwäche, weil beide den Menschen in ihre Abhängigkeit bringen, ihn aufregen, bedrücken, endlich unterdrücken und ihn um seine innere Freiheit bringen konnten. Wer öffentlich bekannte, ich habe Angst, verlor jeden Respekt, weil unfähig, seiner sittlichen Bestimmung zu genügen, sich nicht von menschlich- allzu-menschlichen Trieben beherrschen zu lassen. Der Mensch sollte sich selbst überwinden, sich also nicht bequem mit seinen Unzulänglichkeiten abfinden und dabei als Sklave seiner trüben Leidenschaften jeden Anspruch auf Würde und Ehre verspielen.

Davon ist heute nicht mehr die Rede. Ja, wer es wagt, sich ohne Angst und Bangen in der Gegenwart zu bewähren und unerschrocken an die ohnehin ungewisse Zukunft zu denken, gerät in den Verdacht, dem Gemeinwohl zu schaden und nicht mit seiner sittlichen Pflicht vertraut zu sein. Diese bestehe nämlich darin, dauernd allein und mit anderen sorgenvoll Gefahren von der fürsorglichen Solidargemeinschaft abzuwehren, die ihn mit den übrigen Menschen in Beziehung bringt und seinem Leben erst Sinn verleiht. Antike Philosophen oder Historiker, die großen Meister unserer Humanisten, unterrichteten hingegen über die Menschwerdung, die sich nach und nach vollzieht, je mehr es dem einzelnen gelingt, sich nicht einschüchtern zu lassen von ihm vielleicht bedrohlich werdenden Mächten. Dem Christen war ja ohnehin die Frohe Botschaft zuteil geworden: Fürchtet euch nicht. Wer dennoch schreckhaft verzagte, bewies ein mangelndes Vertrauen in die göttliche Hilfsbereitschaft.   

Prinz Eugen, der edle Ritter, der Christ, Soldat und Staatsmann, mahnte einmal seine Offiziere: „Meine Herren, Sie haben nur eine Lebensberechtigung, wenn Sie beständig auch in der größten Gefahr als Beispiel wirken, aber in so leichter und heiterer Weise, daß es Ihnen niemand zum Vorwurf machen kann!“  Er konnte so zu ihnen reden, weil er wie seine Offiziere nicht daran zweifelte, daß das Leben nicht der Güter höchstes ist und Gottesfurcht, die Ehrfurcht vor Gott, die Kraft verleiht, sich seinem Willen anzunähern, von dem alle Freiheit herrührt. Die Ehrfurcht befreit von Angst und Schrecken, denn sie hängt mit der erlösenden Liebe Gottes und der Dankbarkeit zusammen und hat nichts mit der knechtischen Unterwürfigkeit zu schaffen, um angsterfüllt irgendwelchen Strafen zu entgehen. Ehrfurcht und Freiheit sind so eng miteinander verbunden wie Angst und Schrecken mit der Unfreiheit, die den Menschen von sich selbst entfremden, als Ebenbild Gottes Teil an dessen Freiheit zu haben.

Die Ehrfurcht bewahrte den Christen davor, seine Vernunft nicht zu überschätzen, die im Verein mit vielen Irrtümern zur Herrschaft des Schreckens führte, woran Antoine de  Rivarol nach 1789 jene aufgeklärten Freunde der Vernunft immer wieder erinnerte, die in der Despotie der revolutionären Republik, die sich fürchterlich machte, nur unzureichende Aufklärung erkennen wollten. Die Vernunft gebärt nicht nur Ungeheuer, sobald sie schläft und nicht bei sich ist, wie Francisco Goya suggerierte. Sie wird selber ungeheuerlich und ist auf die Angst und Panik angewiesen, wenn sie den Kompaß verliert und das Staatsschiff richtungslos in aufgewühlter See hin und her geworfen wird. Den Anker des Staatsschiffes vermutete Rivarol im Himmel, weil Religion und gute Sitten der Vernunft empfahlen, dem bloßen Verstand mit seiner eingeschränkten Vernünftigkeit zu mißtrauen.

Die altväterliche und etwas schwierige Kunst des Sterbens wollten sogenannte Aufklärer mit einer Lebenskunst ersetzen, es sich in dieser Welt gemütlich zu machen, die so manchen Genuß ohne Reue im Angebot hat für den, der beherzt zugreift. Das Leben, das volle, das authentische, das heilige Leben mit seinen Lebensgluten gewährt ungeahnte Steigerungen bei der Selbstverwirklichung jedem, der dem Ruf des Lebens folgt, um im Triumph des Lebens zum Sinn des Lebens und damit zum Lebensglauben vorzustoßen, welcher ihn aufjauchzen läßt: es lebe das Leben.

Die Demokratie ist eine Lebensmacht, für die man lebt, aber nicht stirbt. Der Tod, vor dem alle gleich sind, ganz im Gegensatz zum vergöttlichten Leben, ist zum Feind geworden, zum arglistigen Feind. Er kann nicht besiegt und in Ketten gelegt werden. Aber die Lebenshungrigen und Daseinsgefräßigen sind zumindest bemüht, ihn zu überlisten, um das Leben mit allen Mitteln möglichst für alle gleich lang zu machen.

Wer sich diesem Zwang zum Leben verweigern möchte, der ist ein Lebensverächter, also ein Menschenverächter, ein Verschwörer und schlechter Demokrat, indessen sogar ein schlechter Christ. Wir alle leben schließlich für das Leben, und Lebenslust regt sich in allen Dingen. Der Tod, schon lange nicht mehr Freund Hein, ist allerdings ein gemeiner Kerl, er erfindet immer neue Mittel, um den Lebensfrohen die Freude zu verderben und Angst zu machen. Er lauert überall und vergiftet das Leben derer, die ihn und seine Macht vergessen möchten. 

Lebensangst, Weltangst, die Existenzangst wurden überhaupt erst gespürt, seit an das Leben als Erlöser von allen Übeln geglaubt werden sollte. Je inbrünstiger die Liebe zum Leben und der Glaube an das bloße Leben gefeiert wurde, desto mehr Ängste kamen auf, das gesamte Leben macht mittlerweile Angst: Abstiegs-angst, Prüfungsangst, Kastrationsangst, Flugangst, Zukunftsangst, Höhenangst, Angst vor dem Wandel und Angst vor dem Stillstand, Angst vor den Rechten, Angst vor Männern, Angst vor Trump, Angst vor dem Islam, Angst vor dem Klimawandel, Angst vor dem deutschen Wald und Angst vor dem Waldsterben in Deutschland. 

Die Angst regiert überall in der angeblich freien westlichen Welt und hat mit der Angst vor Corona die Macht ergriffen. Ein wirklich Freier ist mittlerweile nur, wer sich ängstigt und die Masken der Angst trägt, denn er denkt, wie es sein soll, nicht an sich, sondern an die Gemeinschaft, mit der und in der und durch die er allein zu leben und seinen Lebensgenuß zu optimieren vermag. Persönliche Freiheit gemäß antiker und christlicher Vorstellungen gilt unter solchen Voraussetzungen nur noch als ein egoistischer, die Gesellschaft und deren Wehrkraft zersetzender Wahn. Nur der Gesunde ist wirklich frei, also müssen alle gesund sein und vor Gefahren ihrer Gesundheit geschützt werden. Lebensangst, das Recht auf Gesundheit und die allgemeine Pflicht, jeden verantwortlich zu machen für die Geist und Körper umfassende gesamtgesellschaftliche Gesundheit, stürzen die  sinnstiftenden Angsthasen freilich von einer Sinnkrise in die nächste, ununterbrochen beunruhigt und aufgeregt.  

Den spanischen Philosophen und Soziologen José Ortega y Gasset erinnerte 1939 das aufgeregte Treiben seiner aus Lebensangst sich selbst entfremdeten Zeitgenossen an die dauernde Unruhe der Tiere, die unermüdlich auf ihre Umgebung aufpassen, in der sie alle möglichen Gefahren wittern. Das Tier lebt in dauernder Weltangst und ist dennoch zugleich ununterbrochen begierig auf alle Dinge, die es in der ihn umgebenden Welt gibt, die sie nie zur Ruhe kommen läßt. Als Gefangener der Umwelt lebt es in einem ständigen Außer-sich-Sein, vollkommen beherrscht vom Außen. Beim Menschen wird ein solcher Zustand Selbstentfremdung genannt, er verliert dann die Fähigkeit, sich in sich selbst zu versenken und zu sich selbst zu kommen, um vor den Überraschungen, mit denen die Welt aufwartet, nicht feige zu kapitulieren.

Diese Fähigkeit schwand unter den Menschen seit dem 19. Jahrhundert, wie José Ortega y Gasset bemerkte. Es war der Bürger, der mit seinem Begehren, vor allen Ungewißheiten und plötzlichen Störungen in seiner Alltäglichkeit geschützt zu werden, vor dem Leben versagte. Er wollte nichts mehr davon wissen, daß im Leben das einzig sichere die Unsicherheit sei, wonach sich seit der Antike die Weltklugheit richtete. Die Bürger vergaßen in ihrer Lebensgier, daß Leben als Zusammenleben immer ein Abenteuer, eben ein Drama voller Unwägbarkeiten und Gefahren ist.

Insofern muß der Mensch immer wachsam sein in der Bereitschaft, den Gefahren gewachsen zu bleiben in einer sich dauernd verändernden Welt, die nie als beste aller Welten zum Stillstand gelangt. Theologen, Philosophen und Dichter unterrichteten über die Kunst, sich in der Welt mit ihren Ungewißheiten zu behaupten und in ihr eine sittliche Freiheit zu bewahren. Zur Kunst der Weltklugheit gehörte deshalb vor allem die Kunst, gefaßt und würdig zu sterben. Das Leben und die Freiheit empfingen vom Tode aus ihren Rang und ihre Würde. Denn solange das Leben nicht als der Güter höchstes galt, konnte es auch hingegeben werden für Güter, die wichtiger waren, nämlich, die Freiheit und Ehre, Gott, König und Vaterland. Im Tode fand das Leben seine Erfüllung. Sich um das nackte Leben zu sorgen und im geschickten Überleben persönlicher oder kollektiver Katastrophen gar eine sittliche Leistung zu verstehen, wurde als Ausdruck niedriger Gesinnung be- und verurteilt.

„Die Ehrfurcht haben vor dem Herrn, die dürfen auf ihn hoffen.“ Das versicherte die Kirche, und diese Hoffnung verlieh Standhaftigkeit, Besonnenheit, Geduld, und nicht zuletzt Vernunft, die als Teilhabe an der göttlichen Vernunft dazu verhalf, nicht wie die Tiere in Panik zu geraten und, von äußeren Eindrücken geschreckt, hilflos zu werden. Diejenigen freilich, die Ehrfurcht vor der Gesundheit haben und Ehrfurcht vor dem Leben nur um des Lebens willen, geraten unweigerlich in Angst und Schrecken, weil sie ihre Hoffnung auf etwas höchst Vergängliches setzen und deshalb auf nichts weiteres hoffen dürfen. Das führt dann zu aufgeregter Geschäftigkeit, um das Leben wenigstens vor Krankheiten abzusichern.

„Angst essen Seele auf“ lautete der Titel eines Films von Rainer Werner Fassbinder. Mit der Seele erlischt allerdings auch das Bedürfnis nach innerer Freiheit, der Voraussetzung für ein gelungenes Leben. Der Lohn der Angst in nachchristlicher Zeit ist das Außer-sich-Sein der Menschen, das sie sich und der Welt entfremdet.