© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/20 / 13. November 2020

Im Zusammenlesen das Zusammenleben einüben
Lektüre als Charakterprobe
(wm)

Als Schriftsteller nicht annähernd so bedeutend wie viele seiner Fachkollegen, die Juristen Goethe, Storm oder Kafka, nimmt Heinrich Christian Boie (1746–1806), der Landvogt von Süderdithmarschen, doch einen festen Platz in der deutschen Kultur- und Literaturgeschichte ein. Den verdankt er seinen Fähigkeiten als „Intendant auf dem Parnaß“, als Literaturmanager, Redakteur des auch von Goethe, Klopstock und Bürger belieferten Göttinger Musenalmanachs und Herausgeber der führenden Zeitschrift der Spätaufklärung, des Deutschen Museums (1776–1788). Daß Boie keine „große“, sondern nur eine „mittlere“ Berühmtheit war, macht ihn für Sozialhistoriker sehr interessant. Denn seinen autobiographischen Zeugnissen fehlt jede Stilisierung der eigenen Person, wie sie im Rampenlicht stehenden Autoren eigen ist. Besonders in der in vier Bänden edierten Korrespondenz (Göttingen 2016) mit seiner langjährigen Braut Luise Mejer (1746–1786) tritt er daher in völliger Offenheit sich und seiner Zeit gegenüber. Was den Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase anregte, das in diesem Briefgespräch dokumentierte „Leseverhalten als Kulturmuster“ zweier Bildungsbürger in der Goethezeit zu untersuchen (Euphorion, 2/2020), deren harmonierende Lektürepraxis des „Zusammenlesens“ beide als Einübung in „gelingendes Zusammenleben“ betrachteten. Hinter der Sorge, schlecht zu lesen, stand für sie stets die Sorge, falsch zu leben. Ob noch, wie Spoerhase meint, eine ähnliche „Beunruhigung“ von Lektüre ausgeht, „heute, wo wir uns wieder sorgenvoll mit der Gegenwart und Zukunft des Lesens befassen“, ist wohl eher unwahrscheinlich. 


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