© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/20 / 13. November 2020

Wenn rechts was frei bleibt
Literatur: Der diesjährige Gewinner des Deutschen Buchpreises ist ein schillerndes Frauenporträt
Dietmar Mehrens

Wenn rechts was frei bleibt, ist das nicht nur das Ergebnis des Linksrutsches einer ehemals konservativen Partei. So lautet auch der Minimalkonsens unter Literaturwissenschaftlern bei der Definition von Lyrik. Verse müssen sich weder reimen noch einem klaren Metrum folgen, seit keine normative Poetik mehr das Zepter einer Kunstmajestät schwingen darf. Aber man erkennt sie als Verse, solange hinter der Zeile rechts was frei bleibt.

Auch bei „Annette, ein Heldinnenepos“, das im Oktober auf der Buchmesse zum besten Roman des Jahres gekürt wurde, bleibt rechts was frei. Der geniale Gedanke, das Buch zum Versepos zu deklarieren, kam der Autorin Anne Weber, weil sie der real existierenden Hauptfigur nicht einfach erfundene Sätze in den Mund legen wollte. Die Textsorte Epos kaschiert also vor allem, daß ihr biographischer Bericht die Kriterien für einen Roman nur bedingt erfüllt.

Der freie Raum rechts sorgte überdies dafür, daß sich das Buch ressourcenfeindlich von 150 auf 200 Seiten aufblähen und den Verkaufspreis auf 22 Euro klettern ließ, was dem Verlag aber offenbar keine Klimagewissenspein bereitete. Tatsache ist, daß die Präsentation von purer Prosa durch die Anordnung in Versen, die schon bei Günter Grass’ desaströsem Spätwerk „Was gesagt werden muß“ (2012) wenig Sinn ergab, den Lesegenuß eher hemmt als hebt.

Anne Weber (Jahrgang 1964) hat einen Report über ein Leben geschrieben, das es wert ist, erzählt zu werden. Die gebürtige Offenbacherin lernte die damals 95jährige Anne Beaumanoir, genannt Annette, bei einer Podiumsdiskussion im südfranzösischen Dieulefit kennen und schätzen. Und erkannte rasch: Dieses Leben hat das Zeug zum Emanzen-Epos, zu einem Heldengedicht, das vielleicht kein Gedicht ist, aber wenigstens den richtigen Helden hat: eine Frau, emanzipiert, altruistisch, kommunistisch. Wenn sich so etwas nicht vermarkten läßt im linksliberalen, frauenrechtsverliebten Bildungsbürgertum der Bundesrepublik 2020, was dann?

Auf Staatsfeinde und Terroristen eingelassen

Annette also, „die aus Le Guildo, dem Weiler an der Flußmündung des Arguenon auszog, die Welt vor allen Übeln zu bewahren und zu heilen“, ist die Heldin dieses Pseudovers- und De-facto-Prosaepos. Die 1923 in der Bretagne Geborene ist eine junge Frau, als Frankreich von den Panzerdivisionen der Wehrmacht überrollt und besetzt wird. Irgendwann ist da ein Mann, der spricht sie an: Ob sie vielleicht ein Päckchen für ihn zustellen möchte? Der Mann ist ein Kriegsgefangener und die Medizinstudentin auf einmal im Widerstand. Bald wird auch klar, wes Geistes Kindern sie sich da angeschlossen hat: trotzkistischen Kommunisten.

Sie geht nach Paris und trifft ihre erste große Liebe Rainer Jurestal, einen Juden deutscher Herkunft, der jetzt Roland heißt und seine erste Frau auf der Flucht vor den Nazis verloren hat. Annette verteilt Flugblätter, trifft sich verdeckt mit Kontaktleuten, lebt mit Roland in einem „Kleiderschrank voller Geheimnisse“ – ein Leben wie ein Versteckspiel. Sie läßt ihr eigenes Kind im Mutterleib abtöten, nachdem sie schwanger geworden ist, rettet dafür zwei jüdischen Kindern das Leben, indem sie sie bei ihren Eltern versteckt. Schließlich landet sie in Lyon, kann aber nicht mit Roland zusammenbleiben. 

Nach dem Krieg beendet sie in Rennes ihr Medizinstudium. Sie träumt von Indochina, heiratet erst den Falschen, dann den Richtigen und bekommt drei Kinder. Aber das Abenteuer Freiheit, das Abenteuer Freiheitskampf vielmehr, läßt sie nicht los. Angewidert von den Ungerechtigkeiten des im Niedergang begriffenen Kolonialzeitalters beginnt sie, eingedenk ihrer Résistance-Erfahrungen, die algerische Befreiungsorganisation FLN zu unterstützen, und merkt nicht, wie sehr sie sich dabei auf Staatsfeinde und Terroristen eingelassen hat.

1959 wird Annette schließlich selbst zur Staatsfeindin erklärt und flieht ins tunesische Exil. Ehemann und Kinder muß sie zurücklassen und bleibt von ihnen dauerhaft getrennt. In Tunis arbeitet sie für ein FLN-Büro, die Grenze zu Algerien fest im Blick. Sie verliebt sich in einen zwölf Jahre jüngeren Algerier und fährt mit ihm, als die Unabhängigkeit von Frankreich 1960 endlich errungen ist, über die Grenze. In Algerien ist die Widerstandskämpferin anfangs eine Art Volksheldin. Der Lohn ist eine Position im Gesundheitsministerium – für die Neurophysiologin ein dankbares Betätigungsfeld. Trotz der traurigen Entwicklung des internationalen Kommunismus in der Nachkriegszeit träumt sie weiter von einer besseren Welt jenseits von Religion, Nation und Tradition.

Anne Webers „Heldinnenepos“ ist nicht frei von Peinlichkeiten. Sie würde wahrscheinlich das Wort Fauxpas vorziehen. Das vor allem zu Anfang ausufernde und zumeist überflüssige Einstreuen französischer Originalwörter durch die in Paris lebende Autorin wirkt gönnerhaft und dürfte Leser, die des Französischen nicht mächtig sind, auf die Dauer nerven.

Die Peinlichkeiten nehmen in der zweiten Häfte ab

Rohrkrepierer-Alarmstufe Rot herrscht auch, wenn sie sich als auktorial Erzählende inmitten der historischen Ereignisse, die sie mit oft so meisterhafter Leichtigkeit referiert, selbst zu Wort melden und dabei mit einem bestimmten Lager gemein machen zu müssen glaubt. Bei der Erwähnung von Annettes Abtreibung etwa, für die sie das zynische Unwort Engelmacherin übernimmt, oder bei der des aktuellen Front National, den sie (im Gegensatz zur kommunistischen Widerstandsbewegung gleichen Namens) eine „Schande“ nennt, oder beim an den Haaren herbeigezogenen Vergleich zwischen aktueller Massenmigration und der Flucht vor den Nazis. Da steht dann auf einmal rechts nichts mehr frei, jedenfalls dem Leser nicht; er wird eingeladen, schwarzweiße Klischees zu übernehmen. Oder er ist kritisch genug und sieht statt dessen die für zeitgenössische Künstler so typischen blinden Flecken links. 

In der zweiten Hälfte des Buches, die Annettes Engagement für den FLN schildert, nehmen die Peinlichkeiten allerdings merklich ab. Fast meint man nicht nur Zeuge des Ernüchterungsprozesses der Heldin zu werden, sondern auch einer parallel dazu während des Schreibens sich vollziehenden Desillusionierung der Autorin. Weber vervollkommnet den ironisch-distanzierten Ton der geistreichen, nicht immer unprätentiösen, aber fast immer markigen und fein geschliffenen Kommentare, mit denen die Erzählerin Annettes Lebensgeschichte begleitet. Ihre mitunter fast verspielten Sätze nähern sich respektvoll, oft vorsichtig fragend, tastend der schillernden Hauptfigur. Sie wagt daher nicht, das so klar zu formulieren, doch die Geschichte einer Heldin ist „Annette“ nur bis zum Ende des Weltkriegs.

Jury: Zeitgeschichte in Literatur überführt

Ihre Skepsis kleidet Weber in Sätze wie: „Will sie’s wissen?“ Was Annette vielleicht nicht wissen will: Ihre Geschichte wandelt sich von der einer Résistance-Heldin zu der einer ideologisch Verführten und, ja, auch einer Verblendeten, die lange nicht wahrhaben will, daß sie zur Unterstützerin einer islamisch-sozialistischen Terrororganisation geworden ist, die in acht Jahren 19.000 Zivilisten über die kalte Klinge ihrer radikalen Ideologie springen ließ. Ihr Buch sei „schon eine Art Hommage“, gibt Weber zu, aber: „Es ist keine Hagiographie.“ 

Die Machtübernahme durch den Armeeoberst Boumedienne und seinen Günstling, den späteren Autokraten Bouteflika, am 19. Juni 1965 ist historisches Ereignis und Sinnbild zugleich: ein Sinnbild für das Umschlagen von Freiheitskampf in Autokratie, das so viele afrikanische Staaten im postkolonialen Zeitalter erlitten. Der Klan-Putsch gegen den mit Annette direkt befreundeten sozialistischen Präsidenten Ben Bella bringt auch sie in akute Lebensgefahr. Die Illusion immerhin von einem Sozialismus, der „keine Sowjet-Gulagherrschaft ist, sondern ein echtes brüderliches Land, in dem die Menschen ihren Reichtum teilen und gemeinschaftlich verwalten“, die ist sie los. Wirklich? Die reale Anne Beaumanoir behauptet, sich in dem Opus nicht wiedererkannt zu haben.

Trotz der leider erwartbaren weltanschaulichen Reflexe, die einem Kunstwerk selten guttun, ist Anne Webers „Heldinnenepos“ ein famoses Buch, das souverän auf Größen der französischen Literatur wie Sartre und Camus rekurriert und Zeitgeschichte, so formulierte es die Jury, „in ein grandioses Stück Literatur“ überführt, sprachlich fein justiert und frei von langweiligen Tableaus. Jeder Fauxpas ist vergessen, wenn die Autorin den von George Orwell in „Farm der Tiere“ mustergültig veranschaulichten stalinistischen Sündenfall, der mit Befreiungsagenda angetretene Revoluzzer in paranoide Tyrannen verwandelt, in einen so wunderbar einfachen und zugleich alles sagenden Satz kleidet: 

„Wer Fortschritt wollte, hat jetzt Gleichschritt.“ 

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos. Matthes & Seitz, Berlin 2020, gebunden, 208 Seiten, 22 Euro