© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/20 / 13. November 2020

Einen Buß-, Bet- und Volkstrauertag für Deutschland
Für ein erneuertes Gedenken
Dietmar Mehrens

Jeder letzte Montag im Mai ist in den USA ein landesweiter Feiertag, der „Memorial Day“. Er dient dem Gedenken an alle für ihr Vaterland gefallenen Soldaten. In Deutschland gibt es im Frühling ebenfalls einen arbeitsfreien Montag; der Volkstrauertag, das deutsche Pendant zum amerikanischen „Memorial Day“, gehört nicht dazu. Er fällt auf den vorletzten Sonntag im Kirchenjahr, also auf einen Tag, an dem ohnehin fast jeder frei hat. Das Gedenken an die Menschen, die ihr Leben in zwei Weltkriegen für Volk und Vaterland geopfert haben, ist den Deutschen keinen gesonderten Feiertag wert.

Mit dem Begriff des Kriegshelden tut sich unser Land schwer. Wer im Krieg auf der „falschen Seite“ kämpfte, für das militaristische Zweite Reich der beiden Wilhelms oder für das antisemitische „Dritte Reich“ der Nazis, verdient nach Ansicht vieler kein Gedenken und einen Heldenstatus schon gar nicht. Als es vergangenes Jahr vor dem Volkstrauertag auf Veranlassung der Verteidigungsministerin nach langer Zeit wieder ein öffentliches Gelöbnis gab, platzte vielen im pseudo-pazifistischen linken Lager der Kragen. Eine „Zurschaustellung von Militarismus“ wurde moniert.

Ein Land, das denjenigen, die bereit waren und sind, für dieses Land, ihr Vaterland, und seine Werte das Leben zu geben, den dafür schuldigen Respekt verweigert, ist ein armes und vor allem ein schwaches Land. Das NS-Unrechtsregime ist das jüngste seiner Art in der gesamtdeutschen Geschichte, und es hat großes, sehr großes Unheil über Deutschland gebracht. Die Verletzung, die die Nationalsozialisten dem deutschen Volk zugefügt haben, ist so groß, daß sie nicht schnell abheilen kann. Sie darf nicht verharmlost, an sie muß immer wieder erinnert werden.

Ein Skandal jedoch ist es, wenn diese Verletzung verzweckt, instrumentalisiert, mißbraucht wird, um Begriffe wie Volk, Vaterland oder Nation zu diskreditieren und die (positiven) Gefühle, die sie bei vielen auslösen, zu kriminalisieren. Und es ist auch nicht zulässig, so zu tun, als habe es Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf deutschem Boden nur einmal in der Geschichte gegeben und als seien sie ausnahmslos von einem bestimmten Regime verübt worden.

Welcher Deutsche weiß heute noch, was im Mai 1631 in Magdeburg geschah, als kaiserliche Truppen unter dem Befehl des Grafen von Tilly ein Blutbad unter der Zivilbevölkerung anrichteten, die es an Grausamkeit jederzeit mit SS-Exekutionen an der Ostfront aufnehmen können? Und wenn von diesen Verbrechen Deutscher an Deutschen (begangen zu allem Überfluß im Namen des Christentums) heute kaum noch ein Deutscher etwas weiß, ist das für dieses Land gut oder schlecht?

Warum wird Helmut Kohl als Architekt der deutschen Einheit gewürdigt, und Bismarck mit seinen Verdiensten um die deutsche Einigung von 1871 muß sich von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Ansprache zum diesjährigen Einheitsfeiertag – wenn auch ohne namentliche Nennung – als Blut-und-Eisen-Politiker verfemen lassen, der die Einigung „erzwungen“ habe, „gestützt auf preußische Dominanz, auf Militarismus und Nationalismus“?

Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung muß sich Deutschland der Frage stellen, ob es vor dem neo­sozialistischen Banner der Beliebigkeit den Grüßaugust machen und, wenn der Wind heftiger weht, wie welkes Laub hinweggefegt werden will. 

Warum fristen die Kaiserdenkmäler vor allem in westdeutschen Ortschaften ein Schattendasein, bleiben ungepflegt, unbeachtet, dem Zahn der Zeit preisgegeben? Warum muß, wie am Hamburger Dammtor geschehen, ein Soldatendenkmal um ein Korrektiv-Denkmal ergänzt werden?

Im Osten liege „im Zentrum eines jeden kleineren Ortes ein gepflegtes und in gutem Zustand sich befindendes Ehrenmal respektive ein Ehrenhain zum Gedenken der in beiden Weltkriegen verstorbenen Männer“, berichtet ein spürbar betroffener Familienvater, der sich mit seinen Kindern regelmäßig vom heimischen Schleswig-Holstein in den Ostteil unseres Landes begibt, und bemängelt: „Davon sind wir in den älteren Bundesländern sehr weit entfernt.“ Die Vergangenheit, die eigene Geschichte, ist bei vielen Deutschen nur präsent als riesiges schwarzes Loch, das Humanität und Gerechtigkeit mit der Gier eines mittelalterlichen Drachen verschlang, als dunkles Zeitalter der Rückständigkeit, aus dem nichts zu lernen ist außer dem, wie man es auf schnellstem Wege überwindet.

Der Verweis auf die NS-Verbrechen dient den Anhängern linker Weltdeutungsmodelle schon lange als anti-reaktionäres Propagandamaschinengewehr. Die Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten, ist dabei groß. Wer sich eine deutsche Erinnerungskultur wünscht, der darf sie nicht begrenzen auf einen bestimmten Zeitraum, nur weil der sich zur propagandistischen Unterfütterung der eigenen politischen Agenda so gut benutzen läßt. Jede Fokusverengung dient einem Zweck. Und wer sich nicht vor den Karren einer bestimmten Ideologie spannen lassen will, muß die ganze Wahrheit im Blick behalten und sich gegen deren Verengung entschieden zur Wehr setzen.

Wie sehr geschichtsvergessene Eliten mit visionärer Zukunftsorientierung selbstbewußte Nationen zugrunde richten und vitale Volkswirtschaften ruinieren können, ist ja eine der Hauptlehren aus dem Zeitalter des real existierenden Sozialismus. Davon ab- und die Aufmerksamkeit auf das NS-Verbrecherregime umzulenken ist noch heute ein beliebter linker Volkssport.

Schon in seinen ersten Jahren ging der SED-Staat mit dem historischen Erbe aus dem – als falsch bezeichneten – Zeitalter des „Imperialismus“ und „Feudalismus“ alles andere als zimperlich um. Der Leipziger Erich Loest schrieb darüber in seinem monumentalen Roman „Löwenstadt“. Die DDR war noch gar nicht geboren, da wollten deutsche Sozialisten in politisch-korrekter anti-bourgeoiser Pflichterfüllung bereits abreißen, was nicht auf den ersten Blick mit dem Marxismus kompatibel war.

Ironie am Rande: Die noch vor Gründung der DDR vorgesehene Sprengung des über achtzig Meter hohen Kyffhäuserdenkmals zu Ehren von Kaiser Wilhelm I. im thüringischen Kyffhäuserkreis verhinderten ausgerechnet die Russen. Die sowjetische Kommandantur in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) weigerte sich, wie der oben bereits zitierte Schleswig-Holsteiner Grenzgänger berichtet, „den Deutschen den zur Sprengung notwendigen Sprengstoff herauszugeben, und gab den Deutschen statt dessen den leidenschaftlichen Rat mit auf den Weg, sich etwas näher mit der über 1.500jährigen deutschen Geschichte zu beschäftigen und sich nicht nur auf die letzten zwölf schlimmen Jahre jüngerer deutscher Geschichte zu fokussieren“. So jedenfalls ist es den Hinweisschildern zur Geschichte des Denkmals zu entnehmen.

Wer seine eigene Geschichte und Tradition verleugnet, gleicht einer entwurzelten Pflanze. Sie verdorrt, sie ist abgeschnitten von dem, was sie nährt und am Leben erhält, sie läßt sich mit leichter Hand entfernen, sie wird verdrängt von anderen Pflanzen, die mit ihr im Wettkampf um die Ressourcen stehen, die der Erdboden, auf dem alle wachsen, hergibt.

Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung muß sich Deutschland der Frage stellen, ob es vor der neo­sozialistischen Regenbogenfahne, dem Banner der Beliebigkeit, den Grüßaugust machen und, wenn der Wind ein bißchen heftiger weht, wie welkes Laub hinweggefegt werden will. Oder ob es als Nation mit eigenem Gepräge, einer eigenen Kultur und Identität, erhalten bleiben möchte.

Mit spezifischem Blick auf den Volkstrauertag bedeutet das: Gedenken als Feigenblatt für einen gesellschaftspolitischen Konformismus, dem die NS-Verbrechen als Legitimation dienen – oder Gedenken, das auch wirklich die für das Vaterland Gefallenen ehren will. Fiele die Wahl auf letzteres, käme das einer erinnerungspolitischen Wende gleich.

Ein deutscher „Memorial Day“ würde die Gedenkkultur der Bundesrepublik beleben und der arbeitsfreie Mittwoch dafür sorgen, daß dieses Gedenken auch gesamtgesellschaftlich wahrgenommen und angemessen

gewürdigt wird.

Die Antwort auf den grundsätzlich zu verzeichnenden Niedergang der Gedenkkultur könnte in einer Renaissance des in den meisten Bundesländern abgeschafften Buß- und Bettages als bundesweiter „Buß-, Bet- und Volkstrauertag“ liegen. Faktisch sind die Volkstrauertage durch die Verknüpfung des Gedenkens an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft mit der Warnung vor deren totalitären Urhebern bereits jetzt auch Tage der Buße, in denen die Repräsentanten von Politik und Gesellschaft öffentlich Reue für die Verirrungen der Vergangenheit bekunden. Und regelmäßig schließen die Gebete in den Volkstrauertags-Gottesdiensten die aktuellen Opfer von Krieg, Terror und Gewalt mit ein.

Die Botschaft des Volkstrauertages: „Laßt uns nicht aufhören, Abbitte zu leisten für das Unrecht, das Deutsche an Deutschen und Angehörigen anderer Nationen begangen haben“, ist mit dem Anliegen des schon vor seiner weitgehenden Abschaffung zum klerikalen Rätseltag verblaßten Buß- und Bettags zu hundert Prozent kompatibel. Beide Gedenktage würde die Zusammenlegung aufwerten: Der kirchliche Buß- und Bettag wäre durch die Verbindung mit dem Kriegsgedenken mit Inhalt aufgeladen. Der bisher regelmäßig auf einen Sonntag fallende Volkstrauertag würde von dem – bundesweit wiederherzustellenden – Feiertagsstatus profitieren und der „Buß-, Bet- und Volkstrauertag“ zu einer Art deutschem „Memorial Day“ werden, einem zugleich kirchlichen und politischen Feiertag.

Ökumenische Gottesdienste, Kranzniederlegungen im Beisein sämtlicher Vertreter der Kommune und sämtlicher ortsansässiger Staatsbediensteter einschließlich der Lehrkräfte öffentlicher Schulen und eine verpflichtende Teilnahme für alle Schulklassen – „Wednesday for Weltkriegsgedenken“ – würde den sozialen Zusammenhalt fördern, einen wichtigen Beitrag im Rahmen der Erziehung zur Demokratie leisten und identitätsstiftend wirken. Wer einen deutschen Paß in der Tasche hat, der ist damit automatisch Teil der deutschen Erinnerungskultur. Und wenn er davon, etwa als türkischstämmiger Migrant, bisher gar nichts gemerkt hat, dann wird es höchste Zeit!

Ein deutscher „Memorial Day“ würde die Gedenkkultur der Bundesrepublik beleben und der arbeitsfreie Mittwoch dafür sorgen, daß dieses Gedenken auch gesamtgesellschaftlich wahrgenommen und angemessen gewürdigt wird. Wer aus Anlaß dieses Tages tief in sich hineinhorcht und trotzdem keinerlei Verbindung zu den Opfern der beiden Weltkriege verspürt, der wird sich von dem Gedanken verabschieden müssen, Teil der deutschen Geschichte zu sein.






Dr. Dietmar Mehrens, Jahrgang 1967, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Er lehrte zwischen 2003 und 2016 deutsche Sprache und Literatur an zwei verschiedenen Universitäten in der VR China sowie an der Kim-Il-Sung-Universität in Pjöngjang. Zwischendurch, 2005 bis 2008, war er Moderator und Redakteur des von ihm konzipierten Kino-Ratgebers film-o-meter, ausgestrahlt auf Bibel.TV. Heute ist er als Dozent und Publizist in der Region Hamburg tätig.

Foto: Deutsche Soldaten vor dem Kyffhäuserdenkmal in Bad Frankenhausen am Rande eines Gelöbnisses von Bundeswehr-Rekruten: Wer seine eigene Geschichte und Tradition verleugnet, gleicht einer entwurzelten Pflanze. Sie verdorrt, ist abgeschnitten von dem, was sie nährt und am Leben erhält