© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/20 / 13. November 2020

Deutschfeindlich und antisemitisch
Drei Tage tobt im November 1920 der Mob in Prag / Ein bitterer Vorgeschmack auf Kommendes
Paul Leonhard

Als der Mob für drei Tage durch Prag tobt und alle deutschsprachigen Passanten verprügelt, „brennen einen ganzen Tag lang kleine Scheiterhaufen aus hebräischen Pergamenten vor der Alt-Neu-Schul“. Vernichtet wird das Archiv des Jüdischen Rathauses. Keines der wertvollen Dokumente bleibt verschont. „Der Primator der Stadt nennt diese Exzesse ‘Kundgebung des Staatsbewußtseins’“, schreibt der deutschsprachige Schriftsteller F.C. Weiskopf in seinem 1931 erschienenen Werk „Slawenlied“, denn sie sind „wie die früheren, zugleich deutschfeindlich und antisemitisch“.

Was Weiskopf als Augenzeuge verarbeitet, sind die pogromartigen Ausschreitungen, die vom 16. bis 18. November 1920 die Hauptstadt eines Landes erschüttern, das soeben erst aus den Trümmern des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates gegründet wurde, das sich gegen das von den Alliierten zugesagte Selbstbestimmungsrecht der Völker sperrt und das sich bis heute gern als einzige mustergültige Demokratie der Zwischenkriegszeit darstellt, dessen katastrophale Minderheitenpolitik aber erst aus Deutschböhmen mit Deutschland liebäugelnde Sudetendeutsche macht: die Tschechoslowakische Republik.

In dem Kunstgebilde, das 1919 im Vertrag von Saint-Germain die historischen Grenzen von Böhmen, Mähren und Schlesien sowie die Slowakei zugesprochen bekommt, leben 13,6 Millionen Menschen, davon 6,8 Millionen Tschechen, zwei Millionen Slowaken, 3,1 Millionen Deutsche, 745.000 Ungarn, 462.000 Ukrainer und Russen, 76.000 Polen. Das Sagen haben aber allein die Tschechen, die alle Selbstbestimmungsforderungen speziell der Ungarn und Deutschen mit Waffengewalt unterdrücken. Die Deutschen seien ohnehin „ursprünglich als Immigranten und Kolonisten ins Land“ gekommen, so Staatspräsident Tomáš Masaryk vor der Nationalversammlung. Auch die am 29. Februar 1920 beschlossene Staatsverfassung kommt ohne Beteiligung der Minderheiten zustande. 

Entsetzt notiert Franz Kafka in einem Brief an Milena Jesenká über die Ausschreitungen in Prag: „Den ganzen Nachmittag bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhaß.“ Der Schriftsteller denkt über seinen Weggang aus der geliebten Stadt nach: „Ist es nicht das Selbstverständliche, daß man von dort weggeht, wo man so gehaßt wird.“ Und fügt trotzig hinzu: „Das Heldentum, das darin besteht, doch zu bleiben, ist jenes der Schaben, die auch nicht aus dem Badezimmer auszurotten sind.“

Als Auslöser für die Prager Ausschreitungen werden in späterer Zeit oft anti-tschechische Aktionen in Eger genannt. Tatsächlich wurde in der westböhmischen Stadt die tschechische Minderheitenschule von Deutschen überfallen. Auch berichtet die deutschsprachige Prager Zeitung am 16. November von der Schändung deutscher Frauen durch Deutschnationale in Eger, weil diese mit tschechischen Soldaten getanzt hätten.

Aber auch dazu gibt es eine Vorgeschichte: In der Nacht zum 14. November stürzen Angehörige der tschechischen Garnison in Eger – entgegen dem ausdrücklichen Verbot ihrer Vorgesetzten – die Bronzestatue Kaiser Josephs II. Eine Aktion, die gerade im vom Deutschen bewohnten Grenzgebiet schnell Nachahmer findet. Auch in Asch und Teplitz schänden tschechische Soldaten Statuen des Kaisers, um die Deutschböhmen zu provozieren. Es ist der Anfang eines Kulturkampfes zweier Völker, in dem es vorerst nur um Denkmale, Straßennamen, Feiertage, bald aber auch um die Sprache, Schulen und die Besetzung von Ämtern geht.

Tschechische Presse heizt die Stimmung an

Die tschechischsprachigen Medien heizen die Situation an, indem sie das Geschehen in Eger drastisch ausschmücken. Am Wenzelsplatz versammeln sich erregte Menschen. Schnell ist die kritische Masse erreicht und der „Pöbel in Lackschuhen“ (Weiskopf) fühlt sich stark genug, um loszuschlagen. Zahlreiche deutsche Einrichtungen werden besetzt und teilweise zerstört, so das Landestheater, das Neue deutsche Theater, der Deutsche Turnverein, die Deutsche Technische Hochschule, das Carolinum, die Schlaraffia, die Mensa academica, Studentenheime und deutsche Schulen. Auf dem Deutschen Haus wird die tschechische blau-weiß-rote Fahne gehißt, die Redaktionen deutscher Zeitungen werden verwüstet. Die Prager Zeitung kann drei Tage nicht mehr erscheinen.

„Das Deutsche Landestheater wird von den Demonstranten beschlagnahmt und ‘als Vergeltung für Unrecht und Gewalt’ dem tschechischen Schauspielerklub übergeben“, schreibt Weiskopf: „In Prag widerhallen drei Tage lang die Straßen der inneren Stadt von den Protestkundgebungen.“ Als wieder Ruhe einkehrt, bleibt zwar Kafka, zahlreiche andere deutschsprachige Kulturschaffende verlassen aber Prag, um in Berlin eine neue Heimat zu finden. Zwar bedauert die Regierung unter Ministerpräsident Johann Cerny die Vorfälle, das seit 1783 bestehende Deutsche Landestheater bleibt aber trotz einer – letztlich erfolglosen – Gerichtsklage des Deutschen Theatervereins in tschechischer Hand. Fortan finden hier nur noch Aufführungen in tschechischer Sprache statt.