© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/20 / 13. November 2020

America first, Germany last
Während Deutschland aus Kern- und Kohleenergie aussteigt, planen die USA revolutionäre Kraftwerkstypen
Manfred Haferburg

Acht Kernkraftwerke sind seit 1988 in Deutschland stillgelegt worden. Die verbliebenen sechs mit insgesamt 8.100 Megawatt (MW) Grundleistung sollen bis Ende 2022 vom Netz. Die Forderung des Chefs der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA), Rafael Grossi, den Atomausstieg aus Klimaschutzgründen und wegen schwankender Wind- und Sonnenenergieerzeugung zu verschieben, verhallte hierzulande. Damit wird der Ausstieg aus einer Zukunftstechnologie vollendet, der einen volkswirtschaftlichen Verlust an funktionstüchtigen und sicheren Stromerzeugern im Wert von insgesamt geschätzten 45 Milliarden Euro verursacht hat.

Weltweit sind derzeit 446 AKW in Betrieb und etwa 50 neue Reaktoren im Bau – darunter in Bangladesch, China, Großbritannien, Indien, Iran, Japan, Pakistan und der Türkei. Etwa 100 Reaktoren mit einer Gesamtleistung von 120.000 Megawatt sind bestellt oder in der Planungsphase, darunter auch in Polen. Mehr als 300 Reaktoren in 30 Ländern sind in der Vorprojektphase. Im nächsten Jahr werden voraussichtlich 13 neue Reaktoren in Betrieb gehen. Zudem läuft eine revolutionäre Fortentwicklung der Nukleartechnologie – unter anderem in den USA.

Die bisherigen 96 Reaktoren in 58 AKWs mit einer Gesamtleistung von 99.600 MW sorgen für ein stabiles Fünftel der US-Stromversorgung und mit dafür, daß eine Kilowattstunde (kWh) für Privathaushalte umgerechnet nur 11,05 Cent kostet. Das Diablo-Canyon-AKW (zwei Druckwasserreaktoren, 2.256 MW) im „linken“ Kalifornien soll zwar 2025 nach nur 40 Jahren Betriebszeit vom Netz, die Laufzeit des 1983 in Betrieb gegangenen Reaktors 2 im St. Lucie-AWK nördlich von Donald Trumps Domizil in West Palm Beach im „rechten“ Florida wurde hingegen bis 2043 verlängert.

„Alle CO2-freien Technologien nutzen“

„Um die Klimawandelbedrohung zu bewältigen“, erklärte Joe Biden im Wahlkampf, „müssen wir alle CO2-freien Technologien berücksichtigen“. Seine Forschungsagenda Advanced Research Projects Agency for Climate verspricht erschwingliche Technologien, um „unser Ziel von 100 Prozent sauberer Energie zu erreichen“. Gemeint sind sichere „kleine modulare Kernreaktoren“, die nur 50 Prozent der Baukosten der heutigen Reaktoren erfordern.

Unter Trump ist der Industriestrompreis auf durchschnittlich 5,97 Cent pro kWh gesunken. Das US-Energieministerium (DOE) hat 160 Millionen Dollar für die Errichtung von zwei Demonstrationsreaktoren der Generation IV freigegeben, die 2027 ans Netz gehen sollen. Insgesamt ist eine Förderung von 3,4 Milliarden Dollar für zwei Prototyp-Kraftwerke vorgesehen.

Ein geförderter Reaktortyp ist der neuartige Flüssigsalzreaktor (345 bis 500 MW) von Terrapower, ein Unternehmen, hinter dem der Biden-Finanzier Bill Gates mit 40 Millionen US-Dollar steht. Den anderen Teil der Regierungsförderung genießt ein Reaktor von X-energy, ein heliumgekühlter Vier-Einheiten-Kugelhaufenreaktor mit 320 MW, bei dem das Spalturan in Grafitkugeln eingekapselt ist. Dieser gasgekühlte Hochtemperatur-Reaktor besteht aus vier 100 MW-Modulen, die in industriellen Serien produziert werden sollen, um Baukosten zu sparen (JF 21/19).

Die Typen der neue Generation-IV Reaktoren heißen: Flüssigsalzreaktoren (MSR), Dual-Fluid-Reaktoren (DFR), gasgekühlte Hochtemperaturreaktoren (VHTR), natriumgekühlte Schnelle Brüter (SNR) und superkritische wassergekühlte Reaktoren (SCWR). Die derzeit genutzten „thermischen“ Druck- und Siedewasserreaktoren nutzen nur das spaltbare U 235, das nur zu einem Prozent im Natururan vorkommt, der Rest ist das nicht spaltbare U 238. Die „schnellen“ Generation-IV-Reaktoren können das U-238-Isotop spalten und in thermisch spaltbare Isotope umwandeln und somit den Brennstoff voll ausnutzen. Sie können sogar den radioaktiven „Atommüll“ als Brennstoff nutzen und in „kurzlebige“ Abfälle umwandeln, die nur ein paar hundert Jahre endgelagert werden müssen. Und: Für die sparsame Generation IV steht der Kernbrennstoff jahrhundertelang zur Verfügung.

Sichere Reaktoren der Generation IV

Herkömmliche Reaktoren halten den Brennstoffvorrat für mindestens ein Jahr in ihrem Reaktorkern vorrätig. Das ist eine gewaltige Energiemenge mit entsprechendem Potential der Freisetzung. Die Generation IV hat nur den gerade benötigten Brennstoff im Kern – sozusagen Beladung „just in time“. Wassergekühlte Reaktoren stehen im Betrieb unter hohem Betriebsdruck (130 Bar), um das Verdampfen des Kühlmittels zu verhindern.

Bei Salzschmelzen oder Metallschmelzen kommt die Konstruktion mit niedrigen Druckparametern (10 Bar) aus, was zu starken konstruktiven Vereinfachungen führt und die Leckanfälligkeit minimiert. Wassergekühlte Reaktoren können ihre Dampftemperatur nur begrenzt erhöhen, da eine Temperaturerhöhung auch zwangsläufig mit einer Druckerhöhung im Kühlmittelkreislauf des Reaktors einhergeht. Die Salz- oder Metallschmelzen lassen erheblich höhere Prozeßtemperaturen zu. Dadurch verbessert sich der Wirkungsgrad stark und es können Prozesse wie thermische Wasserstoffgewinnung problemlos angeschlossen werden, was bei herkömmlichen Reaktoren nicht geht.

Die Reaktoren der Generation IV sind in der Regel inhärent sicher – sprich: auch nach dem Ausfall mehrerer Komponenten kommt es zu keinem GAU. Der Dual-Fluid-Reaktor, eine deutsche Entwicklung, kommt sogar ganz ohne Steuerstäbe aus und wird durch die Leistungsabnahme gesteuert. Eine Kernschmelze mit katastrophaler Radioaktivitätsfreisetzung ist ausgeschlossen, da der Brennstoff im Kern schon eine Schmelze ist. Die Erstellungskosten der modularen Anlagen werden durch vorgefertigte industrielle Fertigung stark verringert, und es besteht ein hoher Grad an Skalierbarkeit.

Das Hauptargument für die neuen AKW ist überall, sie als CO2-freie Ergänzung zu den volatilen erneuerbaren Energiequellen Wind und Sonne sowie zur Herstellung von synthetischen Kraftstoffen zu nutzen. Bis 2030 wird dieser Traum wohl in den USA in Erfüllung gehen, während Deutschland weiterhin seine propagierten CO2-Ziele zu immensen Kosten verfehlen wird. Aus heutiger Sicht kann man sagen: „New nuclear yes – America first, Germany last“.






Manfred Haferburg ist Ingenieur und Berater für nukleare Sicherheit in Paris. Sein autobiographischer DDR-Roman „Wohn-Haft“ hat durch die Corona-Maßnahmen eine nahezu prophetische Bedeutung bekommen.

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