© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/20 / 20. November 2020

„Die falsche Diagnose stützt den Terror“
Dresden, Paris, Nizza, Wien – eine neue Welle islamistischer Attentate schockt Europa. Kein Wunder, Politik und Medien ignorieren seit Jahren die tatsächlichen Ursachen, warnt der Migrationsforscher Ruud Koopmans in seinem neuen Buch „Das verfallene Haus des Islam“
Moritz Schwarz

Herr Professor Koopmans, belegen die jüngsten Terroranschläge Ihre These vom „Verfall“ der islamischen Welt?

Ruud Koopmans: Zweifellos ist der Terror Symptom der tiefen Krise, in der sich das „Haus des Islam“ befindet.

Was meint „Haus des Islam“?

Koopmans: Die Gesamtheit der islamischen Welt, definiert als alle Länder, in denen der Islam die Mehrheitsreligion ist. Deren Verfall drückt sich vielfach aus, in Krieg, Diktatur, ökonomischer Stagnation, und eben auch im fundamentalistischen Terrorismus.  

Aber sind das nicht die Taten einzelner, die nichts mit dem Islam zu tun haben?

Koopmans: Ein Grund für das Umdenken etlicher seit der Enthauptung des Lehrers Samuel Paty in Paris ist, daß sein Mörder eben kein Einzeltäter war, sondern ein Umfeld hatte, das ihn aufstachelte. Die These vom islamistischen „einsamen Wolf“, der sich allein im Internet radikalisiert, stimmte, bis auf wenige Fälle, noch nie. Der Täter von Nizza etwa kam gerade aus Tunesien, einem Land mit einem großen dschihadistischen Problem. 

Aber gerade Tunesien gilt doch als vielleicht einziger Lichtblick der islamischen Welt.

Koopmans: Ja, denn es ist die einzige Demokratie dort. Und doch kommen von dort prozentual die meisten eingereisten Dschihadisten in Syrien und im Irak. 

Wie schon bei „Je suis Charlie“ gab es neben viel Zustimmung auch wieder Kritik hiesiger Moslems am Protest gegen den Terror, bis hin zu Sympathiebekundungen für letzteren. In Berlin drohte ein 11jähriger seiner Lehrerin im Unterricht, ihr „das gleiche wie der Junge dem Lehrer in Paris“ anzutun. Ist auch das Teil des – wie der Titel Ihres neuen Buches lautet – „verfallenen Hauses des Islam“? 

Koopmans: Tatsächlich wurzeln die Probleme, die wir hier in Europa mit dem radikalen Islam haben, zum allergrößten Teil in dessen Heimatländern, wie ich in meinem Buch zeige. Nehmen Sie nur die aktuellen Fälle, auch wenn diese noch nicht ganz aufgeklärt sind: Sehr wahrscheinlich haben sich die Täter von Nizza und Wien von den empörten Reaktionen in der islamischen Welt auf die Worte Präsident Macrons nach dem Anschlag von Paris ermutigt und bestärkt gefühlt. 

Macron sprach auch von einer „Krise“ der islamischen Welt. Teilt er Ihren Ansatz?

Koopmans: Es hat mich sehr erleichtert, daß er wagt, das Problem beim Namen zu nennen – was Voraussetzung dafür ist, das Problem endlich wirklich anzugehen. Daß dies mutig ist, zeigt auch die Tatsache, daß sich Erdogans wütende Reaktion nicht nur gegen Macrons Verteidigung der Meinungsfreiheit richtete, sondern auch gegen diese These. 

Aber haben wir Reden wie die Macrons nicht schon x-mal gehört: nach dem 11. September, dem Mord an Theo van Gogh, dem Lkw-Anschlag von Nizza 2016, „Charlie Hebdo“, Bataclan und Stade de France etc. – sind das nicht nur Worte?

Koopmans: Ich kann mich nicht erinnern, daß ein westlicher Staatschef schon einmal so deutlich die ideologischen Wurzeln des Terrors benannt hat wie er. Zum Vergleich: Kanadas Premier Justin Trudeau mahnte, statt die Meinungsfreiheit zu verteidigen, daß diese auch Grenzen habe und man andere ja nicht beleidigen müsse. Zudem sind Worte keineswegs immer „nur“ Worte, da die Lösung eines Problems stets mit der richtigen Diagnose beginnt. Das war auch das Motiv für mein Buch: die richtige Diagnose zu stellen und so falsche Diagnosen aus der Welt zu schaffen.

Welche zum Beispiel? 

Koopmans: Etwa, wie wir auch jetzt wieder hören, daß der Terror nur Reaktion auf „Islamophobie“ sei. Das aber ist nicht nur das Vertauschen von Ursache und Wirkung sowie Täter und Opfer, sondern auch eine fatale Bestätigung der Ideologie der Islamisten. Denn die glauben ja, und das ist auch ihre Rechtfertigung für ihre Gewalt, der Westen wolle den Islam zerstören. Schlimmer noch: Wie Studien belegen glauben das auch erhebliche Teile der muslimischen Gemeinschaft – auch bei uns in Europa. Diese falsche Diagnose stützt also den Islamismus und dessen Terror. 

Würden allerdings islamische Regierungen, Armeen und NGOs in Europa das treiben, was der Westen in der islamischen Welt veranstaltet, würden wir das zu Recht als eine Kriegserklärung empfinden.

Koopmans: Es ist unbestreitbar, daß Interventionen des Westens die Lage manchmal schlimmer gemacht haben, vor allem im Irak. Aber als Erklärung für die islamische Krise taugen sie dennoch nicht, da wir die gleichen Probleme wie fehlende Demokratie, Bürgerkriege und Terror auch in anderen islamischen Ländern finden, ohne daß es dort westliche militärische Interventionen gegeben hätte, etwa in Nigeria, dem Jemen oder Pakistan. Das gilt auch für den Kolonialismus, der gerne für alle Übel in der islamischen Welt verantwortlich gemacht wird. Natürlich hatte er Auswirkungen, taugt aber ebenfalls nicht, um zu erklären, warum es fast nirgendwo in der islamischen Welt Demokratie oder wirtschaftliche Innovation gibt. Die finden wir nämlich auch nicht in islamischen Ländern, in denen es kaum oder keine westliche Kolonisierung gab. Und tatsächlich stehen einige islamische Staaten, die länger unter kolonialem Einfluß waren, heute besser da – etwa Tunesien oder Indonesien – als solche, die kürzer oder gar nicht Kolonien waren. Gerne tut man so, als sei ohne westliche Einmischung alles Friede, Freude, Eierkuchen – falsch. Ein Beispiel dafür ist Syrien, das zum wohl schlimmsten Krisenherd der islamischen Welt geworden ist – ganz ohne unser Zutun. An der Lage dort sind außer Rußland nur islamische Kräfte beteiligt: Syrer, Türken, Iraner, die Hisbollah und die Golfstaaten. Der Westen wurde gar kritisiert, weil er sich nicht eingemischt hat. 

Unterstellt, Macron meint es ernst, kann er das Problem überhaupt lösen, liegt das denn in der Macht des Staates? 

Koopmans: Der erste Schritt zum Erfolg ist immer die richtige Identifizierung der Ursachen. Selbst wenn Macrons Worte nur den Effekt hätten, die eben dargestellte falsche Diagnose zu untergraben und zu einem Umdenken in der Debatte zu führen, wäre das schon ein Durchbruch. Beim Rechtsextremismus-Diskurs ist dies längst erreicht. Dort hat man die falsche Diagnose, dieser habe nichts mit der Verbreitung rassistischer Ideologien in der Gesellschaft zu tun, schon lange ad acta gelegt. Beim islamischen Extremismus dagegen nicht. Und das, obwohl Studien belegen, daß in der islamischen Welt deutliche Mehrheiten fundamentalistischen Glaubensauffassungen und – oft antisemitischen – Verschwörungstheorien anhängen und die Todesstrafe für Blasphemisten und Glaubensabfällige unterstützen. In Westeuropa gibt es übrigens auch Menschen, die dem Satz „Der Islam will uns vernichten“ zustimmen, aber nur etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung.

Der Koran und ein Teil der Moslems fordern tatsächlich die Unterwerfung der Welt. Die Zustimmung der zwanzig Prozent ist also doch nicht aus der Luft gegriffen?

Koopmans: Ja, das stimmt insofern, als der harte Kern der Islamisten dies tatsächlich wünscht. Und ja, es gibt auch einen Missionsanspruch, der allerdings nicht unbedingt bedrohlich ist. 

Warum nicht?

Koopmans: Man muß verstehen, daß ein Missionsanspruch, den es ja in vielen Religionen gibt, aus Sicht der Gläubigen nichts Übles ist, im Gegenteil: Sie sind überzeugt, etwas Gutes und Schönes zu vertreten, das das Leben besser macht, und sie möchten dies nun auch anderen Menschen bringen. Ein Problem wird es erst, wenn das mit Zwang oder Gewalt einhergeht. Das aber finden wir leider bei fast allen Religionen.

Das Neue Testament kennt allerdings trotz Missionsgebots nicht den Anspruch, daß die Welt christlich werden muß – und falls nicht, daß sie dann als feindliche Sphäre zu betrachten sei. Zudem ist das Christentum keine politische Ordnung. All das ist im Islam anders und gibt dessen Missionsbefehl eine ganz andere Brisanz. 

Koopmans: Ich vermute, die Inkas und die Azteken haben das damals anders gesehen. Und auch heute gibt es Christen, etwa in Afrika, die, wenn auch ohne Gewalt, einen sehr strengen Missionsanspruch ausüben.   

Folgt die Politik Ihrer Diagnose, daß der Terror in einem Teil der islamischen Kultur wurzelt, muß sie folglich einen Kulturkampf führen. Das aber ist aus zwei Gründen brisant: Erstens müßte er auf das konservativ-fundamentalistische Segment der Moslems in Europa zielen. Das aber ist keine kleine Minderheit. Sie selbst etwa zählen sämtliche bedeutenden Islam-Verbände in Deutschland dazu, und Sie haben in Ihrer Forschung gezeigt, daß fast die Hälfte der europäischen Moslems fundamentalistischen Thesen zustimmt. Zweitens ist es fast unmöglich, einen Kulturkampf nur auf das Zielspektrum zu begrenzen. Erfahrungsgemäß führt er zur Solidarisierung eines erheblichen Teils derer, die nicht fundamentalistisch eingestellt sind, sich aber mit angegriffen fühlen. Sowie zum Protest der Linken und der politisch korrekten Institutionen wie Medien, Gewerkschaften, Kirchen etc. So wird aus einem begrenzten Kulturkampf schnell ein unbegrenzter, der die Gesellschaft spaltet und oft die Gewalt, meist auf beiden Seiten, erst so richtig anheizt. 

Koopmans: Ich weiß nicht, was Sie sich unter „Kulturkampf“ vorstellen, und halte den Begriff für zu vage, um ihn zu benutzen. Es kann aber viel getan werden, ohne die Gesellschaft zu spalten. Würden wir etwa nicht mehr mit Organisationen, die den ideologischen Nährboden für die Gewalt bereiten, zusammenarbeiten, wäre das schon ein großer Schritt.

Zum Beispiel? 

Koopmans: Man könnte nicht mehr zulassen, daß sie Religionsunterricht an Schulen erteilen, könnte ihnen Subventionen streichen, etwa für Deradikalisierungsprogramme – während sie, wie die türkische Ditib, Erdogan unterstehen, der einer der größten Aufhetzer der islamischen Welt ist. Man könnte Ditib-Beamten, die als Koranlehrer aus der Türkei kommen und oft kein Wort Deutsch sprechen, die Einreise verweigern. Und wie Österreich die Auslandsfinanzierung von Vereinen, Moscheen und Koranschulen unterbinden. Schließlich könnte man statt dessen islamische Vereine fördern, die tatsächlich die Prinzipien der Demokratie teilen. 

Ziel wäre, daß Mohammed-Witze so selbstverständlich sind wie solche über den Papst, daß hiesige Moslems Religion als individuelle Entscheidung akzeptieren und von Familie und Kultur entkoppeln oder daß Allahs Wort sich unseren Gesetzen unterordnet. Damit hätten Sie aber nicht nur die Radikalen gegen sich, sondern einen erheblichen Teil derjenigen in Europa, die sich als Moslems verstehen. Und hinter denen große Teile der islamischen Welt, inklusive Dschihadisten, sowie Europas „Bunte“, Linksextreme und wohl auch Medien stehen. Glauben Sie ernsthaft, diesen Kampf aufzunehmen würde ein etablierter deutscher Politiker wagen – der, falls er ihn überlebt, wegen einer Fatwa für immer versteckt leben müßte –, geschweige denn durchstehen? Und glauben Sie ernsthaft, daß dies ohne massive gesellschaftliche Eruptionen erreicht würde?

Koopmans: Grundsätzlich ja, denn ich beschäftige mich mit all den Problemen, die Sie da aufzählen, in meinem Buch. Natürlich wird das nur gelingen, wenn es im Islam selbst zu einer größeren Reformbewegung kommt. Aber auch wir können viel dafür tun, denn die genannten Probleme sind ja, wie gesagt, in Europa vor allem durch den Einfluß der Heimatländer und der arabischen Halbinsel entstanden. Würde dieser endlich gekappt, wozu vor allem auch gehört, die Geldströme abzuschneiden, hätte das erhebliche Auswirkungen. Das beste Beispiel dafür sind viele türkische Moscheegemeinden in Deutschland, die lange Zeit unproblematisch waren. Bis Herr Erdogan an die Macht kam und die Kontrolle über die türkische Religionsbehörde Diyanet und damit auch über die Ditib übernahm. Das zeigt, wieviel machbar wäre, wenn die Politik den Mut fände, entschlossen zu handeln.






Prof. Dr. Ruud Koopmans, ist Direktor der Forschungsabteilung „Migration, Integration, Transnationalisierung“ des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Zudem lehrt er Soziologie und Migrationsforschung an der Berliner Humboldt-Universität. Zuvor hatte er einen Lehrstuhl an der Universität Amsterdam inne. Seine Studien zur Integration machen ihn zum gefragten Gast in den Medien, die auch sein neues Buch, „Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt“, loben: „außerordentlich klug argumentierend“ (FAZ), „klug und lesenswert“ (NZZ), „eine Pflichtlektüre“ (Die Presse). Geboren wurde Koopmans 1961 in den Niederlanden.                             

Foto: Franzose demonstriert für Redefreiheit, österreichische Polizei übt Anti-Terror-Einsatz, Bundeskanzler Kurz trauert in Wien: „Daß die Anschläge nur die Reaktion auf ’Islamophobie‘ seien, ist nicht nur das Vertauschen von Ursache und Wirkung sowie Täter und Opfer, sondern auch eine fatale Bestätigung der Ideologie der Islamisten, der Westen wolle den Islam zerstören“  


weitere Interview-Partner der JF