© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/20 / 20. November 2020

Das frierende Klassenzimmer
Corona: Die Länder wollen Schulschließungen um (fast) jeden Preis vermeiden / Kanzlerin blitzt mit härteren Einschränkungen ab
Peter Möller

Die Schulen – und damit auch Schüler und Eltern in Deutschland sind noch einmal davongekommen. Auf der Videokonferenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Ministerpräsidenten der Länder ist am Montag dem Vernehmen nach schwer um die Forderung aus dem Kanzleramt gerungen worden, angesichts der in den vergangenen Wochen deutlich gestiegenen Zahl von positiv auf Corona getesteten Schülern und Lehrern den Präsenzunterricht mit Auflagen zu versehen und eine generelle Maskenpflicht sowie eine Teilung der Klassen vorzuschreiben. 

Doch dieses Vorhaben scheiterte am erbitterten Widerstand der Länder, die darauf verweisen konnten, daß Kanzlerin und Ministerpräsidenten erst am 28. Oktober beschlossen hatten, trotz des dynamischen Infektionsgeschehens Schulen und Betreuungseinrichtungen nicht zu schließen. Anders als Merkel wollten die Landeschefs diese Zusage nicht schon knapp zwei Wochen später wieder kassieren. „Bund und Länder werden auf der nächsten Konferenz darüber beraten, wie Ansteckungsrisiken im Schulbereich in Hotspots reduziert werden können“, heißt es deshalb nun im am Montag abend veröffentlichten gemeinsamen Beschlußpapier.

Bei vielen Eltern lagen die Nerven blank

Vor allem in den Kultusministerien der Länder ist der Widerstand gegen ein Wech­sel­mo­dell groß, nach dem jeweils nur ein Teil der Klasse unterrichtet wird. Es fehle allein schon an den Lehrern, um dieses Modell umzusetzen. Zudem zeigten die Erfah­run­gen aus der ersten Jahreshälfte, daß sich die sozia­len Unterschiede zwischen den Kindern, die zu Hause über gute Lern­be­din­gun­gen verfügen, und denen, die etwa aus Familien mit Migrationshintergrund stammen, in diesem Fall noch vergrößern. Auch mangele es an vielen Schu­len an der notwendigen digi­ta­le Ausstat­tung.

Die Zurückhaltung bei Maßnahmen, die den Schulbetrieb einschränken, speist sich aber auch aus den Reaktionen auf den Notunterricht während der Corona-Welle im Frühjahr. Am Ende des ersten Lockdowns lagen deutschlandweit bei vielen Eltern die Nerven nach monatelangem Heimunterricht, der häufig gepaart war mit dem parallel laufenden „Homeoffice“, blank. Und auch viele Lehrer sehnten sich nach dem Regelunterricht zurück. Sie empfanden es vielfach als äußerst belastend, zum einen den Notunterricht in der Schule für die Kinder zu stemmen, deren Eltern nicht von zu Hause arbeiten konnten, und gleichzeitig noch quasi aus dem Nichts heraus den Heimunterricht für die übrigen Kinder zu organisieren.

Andererseits hatte sich die Diskussion über die Frage, welche Rolle Schulen und Kinder beziehungsweise Jugendliche bei der Verbreitung von Corona spielen, in den vergangenen Wochen verschärft. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) befinden sich derzeit rund 300.000 Schüler und 30.000 Lehrer in Quarantäne. An mehr als 370 Schulen wurden Corona-Ausbrüche gemeldet. Zudem registriert das RKI derzeit besonders viele Infektionen in der Altersgruppe der Zehn- bis 19jährigen. 

Für besonderes Aufsehen hatte in der vergangenen Woche die Ida-Ehre-Schule in Hamburg gesorgt. Dort waren rund 1.200 Schüler sowie Lehrer getestet worden, nachdem zuvor 22 Corona-Fälle an der Schule im Stadtteil Harvestehude aufgetreten waren. Nach dem Reihentest wurden insgesamt 55 Fälle aus 25 Schulklassen gezählt. Daraufhin schickte das Gesundheitsamt die Schule komplett in Quarantäne. Auch wenn die vorliegenden Erkenntnisse nach Angaben der Schulbehörde darauf schließen lassen, daß die Quellen der Infektionen sowohl außerhalb als auch innerhalb der Schule zu verorten sind, hat der Fall jenen Experten Auftrieb gegeben, die in den Schulen einen bislang unterschätzten Verbreitungsort für Corona-Viren sehen. Dagegen stehen indes Untersuchungen, die ein differenzierteres Bild zeichnen. 

Demnach scheint mittlerweile klar zu sein, daß kleine Kinder sich offenbar seltener anstecken als ältere, berichtet die Welt unter Berufung auf einen Artikel von George Kassiotis und seinem Team vom Londoner Imperial College im Fachjournal Science. Kinder haben demnach weniger ACE-2-Rezeptoren in ihrer Nasenschleimhaut, so daß die Viren schlechter in die Zellen eindringen könnten. Zudem hätten 43 Prozent der Kinder laut dieser Studie Antikörper gegen normale Schnupfen-Coronaviren in ihrem Blut, während es bei den Erwachsenen nur fünf Prozent sind. Angesichts der Tatsache, daß Kinder im Schnitt bis zu zehnmal pro Jahr einen Schupfen haben, Erwachsene dagegen im Schnitt nur ein- oder zweimal, erscheint dieser Befund durchaus nachvollziehbar. Diese Schnupfenviren-Antikörper, so die Wissenschaftler, könnten Kinder möglicherweise vor einer Corona-Infektion bewahren, schreibt die Welt. Bei Jugendlichen ab 14 Jahren sieht es allerdings schon wieder anders aus. Sie sind mit Blick auf die Zahlen des RKI möglicherweise genauso empfänglich wie Erwachsene: In Deutschland gibt es demnach derzeit die meisten Infektionen pro 100.000 Einwohner in der Altersgruppe der 15- bis 34jährigen.

Zumindest bis zur kommenden Woche scheint der Regelunterricht an den Schulen aber gesichert zu sein – abgesehen von den Schulen, an denen plötzlich gehäuft Corona-Infektionen auftreten. Doch spätestens, wenn sich tagsüber dauerhaft winterliche Temperaturen einstellen, werden die Schulen wieder verstärkt in den Fokus rücken. Denn schon jetzt klagen Schüler über kalte Klassenräume, weil vielerorts aus Hygienegründen alle zwanzig Minuten gelüftet werden muß. Findige Schüler versuchen sich bereits mit zusätzlichen Jacken und von zu Hause mitgebrachten Wolldecken gegen den bevorstehenden Corona-Winter im Klassenzimmer zu wappnen.