© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/20 / 20. November 2020

Hart eingreifen
Infektionsschutzgesetz: Während Gesundheitsexperten die Änderungen loben, kommt deutliche Kritik von Verfassungsrechtlern
Jörg Kürschner

Im Eilverfahren hat der Bundestag trotz erheblicher rechtlicher Bedenken das von der Koalition überarbeitete Infektionsschutzgesetz (IfSG) beschlossen, das Grundrechtseinschränkungen während der Corona-Pandemie auf eine rechtssichere Grundlage stellen soll. In der Anhörung des Gesundheitsausschusses hatten die Rechtsexperten den Gesetzentwurf regelrecht zerpflückt.

Der parlamentarische Zeitplan ist dicht gedrängt wie selten. 6. November: erste Lesung des Gesetzentwurfs, 12. November: Anhörung des Gesundheitsausschusses, 18. November: zweite und dritte Lesung mit Schlußabstimmung. Und am selben Tag die Zustimmung des Bundesrats. Anfang Dezember tritt die Gesetzesänderung in Kraft. So schnell war Politik selten, zuletzt vor zehn Jahren bei den umstrittenen Griechenlandhilfen. 

Das dritte Bevölkerungsschutzpaket der Koalition sieht vor, daß auch Menschen ohne Krankenversicherung gegen Corona geimpft werden können, wenn im kommenden Jahr Impfstoffe gegen das Virus zur Verfügung stehen. Urlaubsheimkehrer aus Risikogebieten erhalten anders als bisher keinen Verdienstausfall, wenn sie anschließend in Quarantäne müssen. Die Bundesregierung kann dann auch ohne Zustimmung des Parlaments im grenzüberschreitenden Verkehr die Kontrollbehörden – in der Regel also die Bundespolizei – ermächtigen, daß die Betreffenden einen Impfschutz oder einen negativen (Corona-)Test nachweisen. Die Rückkehrer können auch dazu verpflichtet werden, ihren Aufenthaltsort in den zehn Tagen vor und nach der Rückkehr anzugeben – und welches Reisemittel sie dabei genutzt haben. Voraussetzung ist aber, daß der Bundestag eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ beschlossen hat – was derzeit der Fall ist. Auch eine digitale Einreiseanmeldung wird es geben. Die finanziellen Hilfen für berufstätige Eltern, deren Kinder Pandemie-bedingt nicht in die Schule gehen dürfen, werden fortgeführt. Außerdem werden die Laborkapazitäten für Corona-Tests ausgeweitet.

Anordnungen müssen „verhältnismäßig“ sein

Die Resonanz während der Anhörung fiel zwiespältig aus. Während etwa die Gesundheitsexperten der Bundesärztekammer oder des Caritasverbandes die Neuregelungen mit Blick auf die zweite Pandemiewelle als sinnvoll und angemessen bezeichneten, fiel das Urteil der Juristen negativ aus. 

Im Fokus steht der neueingefügte Paragraph 28a, der das IfSG „rechtssicher“ machen soll, wie Vertreter von Union und SPD die Änderungen begründen. Immer wieder waren vor Gericht Corona-Verordnungen gescheitert, die sich auf die Generalklausel des Paragraphen 28 gestützt hatten, etwa die Beherbergungsverbote. 

In dem erweiterten Paragraphen 28a werden jetzt viele Einschränkungen als Regelbeispiele genannt, die auf die Generalklausel gestützt werden können, unter anderem Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im privaten und im öffentlichen Raum sowie die Anordnung eines Abstandsgebotes. Für Hotels können Übernachtungsangebote verboten werden. Reisebeschränkungen können verhängt werden. Die Gastronomie kann geschlossen oder beschränkt werden. Zudem wurde die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung sowie Beschränkungen für Kultur- und Freizeiteinrichtungen in den Gesetzestext aufgenommen. 

Verbote und Auflagen für Sportveranstaltungen werden angeführt sowie die Schließung von Schulen und Kitas. Betriebs- oder Gewerbeuntersagungen, die Schließung von Einzel- oder Großhandel sowie Beschränkungen und Auflagen für Betriebe, Gewerbe, Einzel- und Großhandel werden gleichfalls genannt. Auch Absagen und Auflagen für Veranstaltungen, Versammlungen und religiöse Zusammenkünfte werden geregelt. Zudem wird in dem Gesetz das Verkaufs- und Konsumverbot für Alkohol auf bestimmten öffentlichen Plätzen oder zu bestimmten Zeiten erwähnt. „Durch 28a werden wir engere Maßstäbe anlegen“, räumt der SPD-Abgeordnete Dirk Wiese ein. 

Zu eng waren nach Ansicht der Opposition die ursprünglichen Pläne der Koalition ausgefallen. So wurde nachträglich klargestellt, daß in der Pandemie Kontaktdaten nur für diesen Zweck zu erheben seien und nach vier Wochen gelöscht werden müssen. Außerdem dürfen Demonstrationen oder religiöse und weltanschauliche Zusammenkünfte nur dann beschränkt oder untersagt werden, wenn ohne dies eine wirksame Bekämpfung der Pandemie nicht gewährleistet ist. Für alle Grundrechtseinschränkungen gilt: „Die Anordnung der Schutzmaßnahmen muß ihrerseits verhältnismäßig sein.“ Vorgesehen ist zudem eine Pflicht zur Befristung. Bei intensiven Grundrechtseingriffen ist eine kurze Befristung vorgeschrieben.

„Persilschein für die Bundesregierung“

Der umfassende Verbotskatalog enthalte „stark freiheitsbeeinträchtigende Maßnahmen wie Ausgangs- und Reisebeschränkungen“, die nicht näher ausgestaltet würden, kritisierte in der Anhörung etwa die Jenaer Verfassungsrechtlerin Anika Klafki. Zugespitzt: „Man könnte denken, das Wort Ausgangsbeschränkung würde es dem Staat erlauben, Bürgerinnen und Bürgern pauschal zu verbieten, ihre Wohnung zu verlassen.“ Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags kommt zu dem Ergebnis, daß die von Abgeordneten aller Fraktionen angemahnte stärkere Einbeziehung des Parlaments unerwähnt bleibt. „Eine Beteiligung des Bundestages an den Rechtsverordnungen des Bundesgesundheitsministeriums ist weiterhin nicht vorgesehen.“ Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, sprach in einem Interview von einem „Persilschein für die Bundesregierung“. Dessen Nach-Nachfolger, der amtierende Gerichtspräsident Stephan Harbarth, wies darauf hin, daß „die Bekämpfung der Pandemie Freiheitsbeschränkungen notwendig machen“ könne. „Wir befinden uns nicht im Ausnahmezustand“, stellte er klar, hatten doch Vertreter der „Querdenker“-Bewegung das IfSG als „Ermächtigungsgesetz“ bezeichnet. Mit diesem Gesetz hatte Adolf Hitler 1933 seine Diktatur gefestigt.

In der Neufassung des Infektionsschutzgesetzes sind finanzielle Entschädigungen für die Wirtschaft nicht vorgesehen. Manche Rechtswissenschaftler argumentieren, auch rechtmäßige Maßnahmen hätten je nach Branche unterschiedliche Auswirkungen; deswegen hätten Unternehmen durchaus Anspruch auf Ausgleichszahlungen. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) hält das neue Gesetz deshalb für verfassungswidrig. 

Wie die FDP lehnt auch die AfD die mit der Gesetzesänderung verbundenen „weitreichenden Einschränkungen von im Grundgesetz garantierten allgemeinen Persönlichkeitsrechten“ ab. Zudem forderte die Partei, daß die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite aufgehoben werden soll, „da unserer Meinung nach die Voraussetzungen nicht erfüllt sind“, heißt es in einer Stellungnahme der Bundestagsfraktion. Bereits seit über einer Woche trudeln zudem bei sämtlichen Bundestagsabgeordneten Protest-Mails – teilweise gleichlautend – ein, in denen die Absender von den Adressaten fordern, gegen das Gesetz zu stimmen. Allein bei CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sollen über 37.000 derartige E-Mails eingegangen sein.