© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/20 / 20. November 2020

Grüße aus Brüssel
Arme Praktikanten
Albrecht Rothacher

Ende Mai wurde ich nach 36 EU-Jahren pensioniert. Ich hätte gerne noch weitergemacht, aber nun ja. Nach drei Monaten Einsamkeit vor Ort, ich war der letzte Mohikaner in der Rußland-Abteilung des Europäischen Auswärtigen Dienstes, fuhr ich schnurstracks aus der gespenstisch leeren europäischen Hauptstadt in mein Oberkärntner Ferienrefugium, um wieder normale Menschen unter normalen Umständen zu treffen. Ich dachte immer, sich ein Ferienhaus zu kaufen, ist die schwachsinnigste wirtschaftliche Entscheidung, die man treffen kann. Heute glaube ich, sie war meine beste.

Im Oktober fuhr ich noch einmal zurück, traf vormalige Kollegen und alte Freunde in der ID-Fraktion. Es war wie in alten Zeiten. Ein paar lustige Biere auf dem Square Lux beim Europaparlament, politischer Austausch und interner Tratsch. Super, man war wieder im Bilde und wußte mehr als in den Zeitungen stand. Kurz danach gab es wieder Ausgangssperren, Kneipenschließungen. Die Stadt wurde erneut gespenstisch.

Videokonferenzen können den wichtigen menschlichen Kontakt nicht ersetzen.

Was ich in Brüssel liebte und schätzte, waren die Veranstaltungen der Think Tanks, der Hochschulen, Botschaften, der politischen Stiftungen, der Lobbyisten und der rührigen deutschen Länderbüros – Baden-Württemberg, Hessen, Bayern vor allem. Man traf immer lustige, wohlinformierte Leute, Kollegen, Lobbyisten, Abgeordnete, und verließ die Veranstaltung wohlgenährt und auf alle Fälle besser informiert, egal ob es sich um die deutsche Milchwirtschaft, Nord Stream 2 oder die demokratischen Reformen in Usbekistan handelte. All dies ist nun vorbei. Videokonferenzen können den wichtigen menschlichen Kontakt nicht ersetzen.

Belgien hat mit 1,3 Prozent eine der höchsten Corona-Durchseuchungsraten der Welt. Mit den aktuellen Ausgangssperren und Hausarresten tendiert der frühere Vorteil von Brüssel als europäischer Hauptstadt mit seinem kulturellen, politischen, sozialen und kulinarischen Leben gegen Null. Ganz grauenvoll, was den armen Praktikanten passiert: Sie können in keine Büros mehr hinein und leben in miserablen Unterkünften, meist ohne Gehalt, völlig abgeschnitten. 

Sicher der schlechtmöglichste Start für eine eigentlich hoffnungsvolle europäische Karriere. Demgegenüber scheint mein alpines Refugium, wo es vorrangig um die Ernte von Äpfeln und Eßkastanien und den Schnitt von Obstbäumen  geht, wesentlich attraktiver.