© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/20 / 20. November 2020

Allein gelassen
Konflikt im Kaukaus: Armenien verliert die Kontrolle über den Zugang zur Hauptstadt von Bergkarabach und die umligenden Gebiete
Luca Steinmann

Es ist spät in der Nacht, als am 9. November der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan die Waffenruhe ankündigt: „Liebe Landsleute, Schwestern und Brüder. Ich habe persönlich eine sehr schwere Entscheidung für mich und für uns alle treffen sollen. Ich habe ein Waffenstillstandsabkommen über Bergkarabach unterschreiben sollen, was ein unglaublicher Schmerz für mich und unser Volk ist.“ Er wollte es nicht wie eine Niederlage aussehen lassen, doch die Armenier wußten, ihr Ministerpräsident hat eine Kapitulation unterzeichnet.

Nur wenige Minuten später kommt es in der Nacht überall in der Hauptstadt Eriwan zu Unruhen und Plünderungen. Paschinjan wird beschimpft, Straßen werden blockiert, das Parlament und weitere Verwaltungsgebäude besetzt. Demonstranten fordern den Rücktritt der Regierung.

Nachdem am 27. September die aserbaidschanische Armee die selbsternannte Republik Artsach angegriffen hatte, befanden sich die Truppen der Region und der Armenier fast durchgehend auf dem Rückzug. Daher mußte Armenien alle Bedingungen akzeptieren, die Rußland und die Türkei vorschlugen.

Mehr als 2.000 junge armenische Kämpfer starben auf dem Schlachtfeld. Die Wut über die letztliche Niederlage am Schreibtisch in der Hauptstadt ist vor allem bei denjenigen brennend, die selbst gekämpft oder die Freunde oder Verwandte auf dem Schlachtfeld verloren haben.

In den Tagen nach dem Waffenstillstandsabkommen versammeln sich immer wieder Hunderte Unzufriedene vor dem Parlament, um gegen das Abkommen zu protestieren. Angeführt werden sie vom Kommandeur armenischer Spezialkräft Artur Grigorjan. Zwei Tage zuvor stand er noch an der Frontlinie im kleinen Ort Schuschi, unweit der Hauptstadt von Bergkarabach, Stepanakert, wo sich die entscheidende Schlacht abspielte.

„Dieses Abkommen ist ein Verrat an unserer Nation und an jedem Armenier“, ruft Grigorjan seinen Anhängern zu: „Paschinjan soll gehen und sogar unser Land verlassen.“ Armenien werde diese Kapitulation nicht akzeptieren. „Wir sind bereit, für unsere Nation alles zu tun. Wir können auch die Waffen ergreifen und den Kampf wieder aufnehmen.“ Für Grigorjan steht fest, der Waffenstillstand müsse noch vom Parlament gebilligt werden, um in Kraft treten zu können. Eine Siegeschance sieht offenbar auch der Kommandeur nicht.

Artsach ist ein international nicht anerkanntes Staatsgebilde. Es war bisher Teil des Territoriums des ehemaligen autonomen Gebiets Bergkarabach sowie parallel dazu de facto Teil der Armenischen Republik. Obwohl es hauptsächlich von Armeniern besiedelt ist, sieht die Weltgemeinschaft das Gebiet als zu Aserbaidschan gehörig, welches durch das Abkommen den Großteil der Region wieder unter seine Kontrolle bringt.

Azeris kontrollieren die Höhe über der Hauptstadt

Die armenischen Milizen müssen die Region verlassen. Die dort siedelnden Armenier werden in Zukunft nur in der Stadt Stepanakert und dessen Umgebung leben können – und das ohne eigenen militärischen Schutz.

Anstelle des armenischen Militärs sollen russische Friedenswächter die Region kontrollieren und die Umsetzung des Abkommens sicherstellen. Es handelt sich de facto um das Ende der armenischen Herrschaft über die Region, die ab jetzt zwischen Russen und Aserbaidschanern geteilt wird.

Diese Region ist seit Jahrzehnten zwischen Armenien und Aserbaidschan umstritten. Historisch ist Bergkarabach von Armeniern als auch von Aserbaidschanern besiedelt worden. Unter dem sowjetischen Diktator Stalin wurde es der aserbaidschanischen Teilrepublik zugeschlagen, was zu einer muslimischen und turksprachigen Masseneinwanderung führte. Mit dem beginnenden Fall des Sowjetimperiums kam es seit 1988 zu Kämpfen und Pogromen auf beiden Seiten. Zwischen 1992 und 1994 konnten die Truppen der Republik Bergkarabach gemeinsam mit der armenischen Armee große Teile des von Bergkarabach beanspruchten Gebiets unter ihre Kontrolle bringen. 800.000 Aserbaidschaner wurden vertrieben, aber auch zahlreiche armenische Siedlungen komplett zerstört.

26 Jahre später begann Aserbaidschan nun erneut eine Offensive, diesmal mit breiter Unterstützung der Türkei und neuen Waffen. Ankara, aber auch Israel, lieferte der aserbaidschanischen Armee Hightech-Waffen wie die TB2-Bayraktar-Kampfdrohne und Söldner. Darunter rund 2.000 syrische Kämpfer aus der Region Idlib, jeder von ihnen bekommt einen Lohn von 2.000 Dollar um gegen die Armenier zu kämpfen.

Armenien hatte auf die Hilfe Rußlands gehofft, die aber nie kam. Zwar ist die Kaukasusrepublik Teil der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, dies betraf jedoch nicht die formell nicht anerkannte Republik Artsach. Vor allem scheute Präsident Wladimir Putin die direkte Auseinandersetzung mit Ankara.

Das gefallene Artsach-Provinzstädtchen Schuschi liegt auf der Spitze eines Berges, von dem aus man einen guten Blick auf Stepanakert werfen kann. Für die Armenier hat er nicht nur eine große kulturelle, sondern auch strategische Bedeutung. Denn wer den Berg kontrolliert, kann auch leicht die Hauptstadt beschießen, was die aus Süden anrückenden Azeris dann auch im Verlauf der Kämpfe taten.

Immer wieder wurde die angespannte Stille drei- oder viermal pro Tag von dem lauten Geräusch der Sirenen, die die Bombardierungen ankündigten, durchbrochen. Die wenigen, die sich auf der Straße befanden, rannten schnell in die feuchten und dunklen Bunker und blieben dort, solange die Sirene tönte. Manchmal für ein paar Minuten, manchmal stundenlang. In diesen Bunkern lebten die wenigen Zivilisten, die noch geblieben waren, sie schliefen auf improvisierten Matratzen. Ein Großteil der rund 60.000 Einwohner war bereits in Richtung Armenien geflohen. Zweimal pro Tag wurden sie von armenischen Priestern besucht, die dann die Messe zelebrierten, während oben Bomben, Mörser und Raketen auf die Stadt niederprasselten.

Es handelte sich dabei vor allem um sehr alte Menschen, die nicht flüchten wollten. Aber auch um Frauen, deren Männer oder Väter an der Front kämpften. Armen G. ist 62 Jahre alt, und seitdem sein Haus zerbombt wurde, lebt er mit seiner Frau in seinem leeren Lebensmittelladen, den er vor 26 Jahren als erstes Geschäft in der Stadtmitte Stepanakerts eröffnet hatte. „Hier bin ich geboren und hier werde ich auch sterben“, erklärt er mit zittriger Stimme.

Doch mit den aus Süden heranrückenden Azeris kamen die Geräusche der Bomben und der Schüsse auf den Schlachtfeldern immer näher, wurden immer lauter und regelmäßiger. Zum Schluß gab es fast keine Minute, in der man keine Explosion hörte.

Die zunehmenden Schwierigkeiten der armenischen Milizen verdeutlichten sich durch die steigende Anzahl verletzter Soldaten, die in den zwei Krankenhäusern der Stadt eingeliefert wurden. Innerhalb eines Tages wurden ungefähr 100 Schwerverletzte gebracht. Derweil stiegen Hunderte Soldaten von Schuschi herab. Obwohl die offizielle Berichterstattung immer noch von Siegen sprach, verfestigte sich in der Stadt der Eindruck, daß der Kampf verlorengeht.

Geht der Nebel, sieht man die Halbmond-Flagge

Am Nachmittag des 7. November wurde die Niederlage bestätigt, als die Militärführung eine Massenevakuierung der Zivilisten aus Stepanakert anordnete. Derweil hatten die Azeris es geschafft, Stepanakert fast vollständig einzukreisen. Nur ein sicherer Weg nach Armenien war noch offen. Plötzlich füllten sich die kurz zuvor noch leere Straße mit Tausenden Menschen. Wer ein eigenes Fahrzeug besaß, verließ die Stadt so schnell es ging, andere versuchten noch auf eins der überfüllten Armeefahrzeuge aufzuspringen.

In den Tagen danach ist Stepanakert eine neblige Gespensterstadt. Die christlich-armenische Präsenz in einem Großteil der Region endet. Die Ausdrücke in den Gesichtern zeigen eine tiefe Traurigkeit, eine Traurigkeit von Menschen, die wissen, daß sie ihr Haus und ihre Heimat vielleicht nicht mehr wiedersehen werden. Einige zünden gar an, was sie zurücklassen müssen, um dem Feind nichts zu schenken und teils wohl auch, um selbst Abstand gewinnen zu können.

Wenn der Nebel sich verzieht und man nun in Richtung Schuschi schaut, sieht man die türkis-rot-grüne aserbai­dschanische Flagge, mit dem türkischen Halbmond in der Mitte, auf dem Berg wehen. Die Straße nach Schuschi ist voller verlassener Panzer und liegengelassener Waffen. Überall findet man die Leichen von aserbaidschanischen Soldaten, die Körper erzählen Geschichten und sind teils kaum erkennbar. Vielen von ihnen fehlt der Kopf. Die ansässigen Armenier haben ihre Soldaten begraben.

Bis nach Schuschi kommt man von dieser Seite aber nicht. Ein russischer Checkpoint verhindert die Weiterfahrt. Die Russen haben jetzt die Verhandlungen mit den Azeris und den Türken übernommen, sie kontrollieren die Grenzen, sie entscheiden, wer wohin gehen darf.

In den armenischen Schützengräben auf dem Berg sitzen derweil immer noch Soldaten um ein Lagerfeuer. Sie trinken ohne Ende hausgemachten Schnaps und rauchen, die Waffen liegen daneben. Aus kurzer Distanz schauen sie auf einen aserbaidschanischen Posten und beschimpfen die Gegner. Doch angreifen können sie nicht, sonst würden sie von den patrollierenden Russen gestoppt. In Artsach können die Armenier nicht mehr allein entscheiden.

Zur Überwachung der zwischen Armenien und Aserbaidschan unter Vermittlung Rußlands vereinbarten Waffenruhe sind die ersten Einheiten der russischen Friedensmacht in die Karabach-Hauptstadt Stepanakert einmarschiert.

„Die Waffenruhe wird entlang der gesamten Berührungslinie eingehalten“, teilte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Generalmajor Igor Konaschenkow, am Donnerstag mit.