© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/20 / 20. November 2020

Mit Zutrauen in die eigene Tatkraft
Meistererzählung der europäischen Zivilisation: Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ ist das neben der Bibel meistverbreitete Buch der Welt
Dirk Glaser

Am 25. April 1719 erschien in London der erste Teil eines als Tatsachenbericht verkleideten Romans unter dem Titel  „The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe, of York, Mariner: Who lived Eight and Twenty Years, all alone in an un-inhabited Island on the Coast of America …“

Heute, dreihundert Jahre später, gehört Robinson Crusoe wie Odysseus, Don Quichote und Faust zu den zeitlosen Leitbildern der Weltliteratur. Und der Roman, dem der Autor Daniel Defoe (1660–1731) 1719 und 1720 noch einen zweiten und dritten Teil anfügte, gilt als das neben der Bibel meistverbreitete Buch auf der Welt. Schon 1720 lagen drei deutsche Ausgaben vor. Es folgten Übersetzungen in einer kaum noch überschaubaren Anzahl von Sprachen sowie Adaptionen, Nacherzählungen und Bearbeitungen sowohl des Romans wie des eine eigene Gattungstradition, die „Robinsonaden“, begründenden Stoffs.

Seit etwa 1900 hat sich das mediale Spektrum schrittweise um Bilderbücher, Comics, Verfilmungen, Hörbücher, Ausgaben für den Unterricht von Deutsch als Fremdsprache, den sonderpädagogischen Gebrauch („Robinson in einfacher Sprache“) und selbst um Computerspiele erweitert, so daß Gabriele von Glasenapp, Kölner Literaturwissenschaftlerin und Didaktikerin mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedienforschung, von der „polymedialen Präsenz“ geradezu schwärmt.

Was diese über Jahrhunderte anhaltende, dem Wandel der Weltanschauungen und Werte trotzende Anziehungskraft der Geschichte eines Schiffbrüchigen ausmacht, das versucht von Glasenapp gemeinsam mit Fachkollegen in einem den Robinsonaden gewidmeten Themenheft der Zeitschrift Der Deutschunterricht (1/2020) herauszuarbeiten. Wobei sich eine Antwort schon aus der genaueren Untersuchung der leider nur beiläufig erwähnten, von den 68er-Mühlen getriebenen gegenkulturellen Bewegung ergibt. „Robinson muß sterben!“ laute seit den 1970ern deren Devise im Umgang mit dem jetzt in den „postmodernen Schiffbruch postkolonialer Diskurse“ geratenen Roman aus den Anfangstagen des Aufstiegs Großbritanniens zur imperialistischen Supermacht. Robinson sei aus dieser Perspektive nichts als ein „literarisches Schreckbild der Unterwerfung des Fremden“, ein Abbild „kolonialistischer Allmachtfantasien des weißen ‘Herrenmenschen’“, den kein ökologisches Gewissen daran hindert, sich die Natur rücksichtslos zu unterwerfen. 

Doch bevor Defoe vom Sockel gestürzt wird und sein für diesen an Zuspruch gewinnenden Geschmack viel zu „eurozentrisches“ und selbstredend „rassistisches“ Hauptwerk, das – ethnologisch durchaus nicht unzutreffend – „Wilde“ als „Menschenfresser“ in Aktion zeigt, vielleicht bald als „uns fremdes, altes Buch“ auf dem Scheiterhaufen landet, erinnern von Glasenapp und ihre Mitstreiter, warum „einer der wichtigsten Texte der Weltliteratur“ nicht der menschenfeindlichen Tabula-rasa-Ideologie globalistischer Bilderstürmer geopfert werden sollte, die sich von den Werten der europäischen Aufklärung verabschieden.

Die soziale Trägerschicht der Aufklärung ist das Bürgertum. Und „Robinson Crusoe“ ist der erste bürgerliche Roman, der in England erscheint, dreißig Jahre nach der mit dem Absolutismus aufräumenden „Glorious Revolution“ von 1688. Daniel Defoe – Geschäftsmann, Politiker, Geheimagent, Zeitungsmacher, als Verteidiger der Volkssouveränität und der Religionsfreiheit auftrumpfender Pamphletist, wie Theodor Fontane erst mit knapp 60 Jahren als Romanautor auf den Plan tretend – stimmt den Inhalt seines Debütwerkes sorgfältig auf die Lebens- und Erfahrungswelten dieser ökonomisch und kulturell, wenn auch noch nicht politisch dominanten bürgerlichen Klasse ab.

Robinson, der genuin bürgerliche Charakter, ist Identifikationsangebot und nachahmenswertes Beispiel zugleich. Die Quintessenz der von der Robinson-Erzählung dem bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zumeist erwachsenen Lesepublikum – ähnlich wirkungsmächtig, als „nützliche Unterhaltung für Kinder“ konzipiert, startet Johann Heinrich Campes „Robinson der Jüngere“ erst 1779 – empfohlenen Verhaltenslehren formuliert eingangs der Vater des Helden: „Der Mittelstand ist die Quelle aller Tugenden und Freuden.“ 

Doch der von der Abenteuerlust gepackte Sohn hält sich nicht an diesen weisen Rat, fährt zur See und bringt es zunächst als Pflanzer in Brasilien zu Wohlstand. Statt den redlich zu mehren, läßt er sich auf den mit hohen Profitraten lockenden Sklavenhandel ein. Um sich und anderen Plantagenbesitzern schwarze Arbeiter zu beschaffen, segelt er nach Westafrika. Aber ein Orkan zerschlägt sein Schiff an den Felsen einer Insel. Von der Besatzung überlebt nur Crusoe, der anschließend in wochenlanger Plackerei alles aus dem Wrack birgt, was ihm das Überleben sichert.

Auf diesem Eiland, allein mit sich selbst und der unberührten Natur, soll der Protagonist, der sich aufgrund seines triebgesteuerten Lebenswandels außerhalb jeder bürgerlich-rationalen und damit religiösen Ordnung gestellt hat, nun zurück zu Gott, zur Vernunft und zur Ordnung seiner Herkunftswelt finden.

Am Anfang der 28 Jahre währenden Eremitenexistenz steht darum der Prozeß innerer Einkehr. Robinson gelangt zu der Erkenntnis, daß Gottes unerforschliche Vorsehung dieses Schicksal über ihn verhängt hat, um ihn von seinem Abenteuerdrang zu heilen und ihm die Augen für die Vollkommenheit der göttlichen Seinsordnung zu öffnen. Je mehr er sein früheres Leben bereut und die Bibel zur Richtschnur seines Denkens und Handelns macht, desto freundlicher gestaltet sich sein Inseldasein. Als geläuterter und, nach allerlei Fährnissen, auch reicher Mann sieht er die Heimat wieder.

Damit verkörpert Robinson den Idealtyp des die Gebote der „protestantischen Ethik“ (Max Weber) erfüllenden Menschen, so daß der Roman die Grundüberzeugung des puritanischen Bürgertums beglaubigt, irdischer Wohlstand sei Gottes gerechter Lohn für fleißige und ehrliche Arbeit. Wirkungsvoll führe Defoe dem Leser vor Augen, daß der einzelne mit gesundem Menschenverstand, optimistischem Zutrauen in die eigene Kraft, mittels Rationalisierung und Methodisierung seines Erdenwandels, Affektkontrolle und „antikreatürlicher Lebensführung“ (Werner Sombart), Tatkraft und unerschütterlichen Gottvertrauens selbst schier aussichtslose Situationen zu meistern vermag. Dabei sind, wie der katastrophale Ausgang von Crusoes Operation Sklavenhandel signalisiert, der Entfaltung des Erwerbstriebs allerdings Schranken gesetzt. Kapitalistisches Gewinnstreben darf nach puritanischer Ansicht nie zum Selbstzweck entarten.

Weil der Konflikt zwischen Natur und Kultur sich als anthropologische Konstante durch die Menschheitsgeschichte ziehe, so argumentiert der Erziehungswissenschaftler Sebastian Schmideler (Leipzig) in seinen „illustrationshistorischen Streifzügen auf der pädagogischen Insel der Robinsonaden im Kinder- und Jugendbuch“, habe sich die spezifisch europäische, Rationalität und Individualität, Freiheit und Bindung kombinierende Lösung des Konflikts als „Mustererzählung der Zivilisation“ in der zehn Generationen prägenden und in der Schule immer wieder neu geknüpften Überlieferungskette behaupten und im kulturellen Gedächtnis verankern können. Also bis hart an den Rand des sich in Europa und den USA ankündigenden epochalen Kulturbruchs.