© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/20 / 20. November 2020

Im ästhetischen Widerstand
Vor fünzig Jahren vollzieht Japans bekanntester Schriftsteller Yukio Mishima vor den Augen der Öffentlichkeit rituelle Selbsttötung
Björn Harms

Es ist noch früh am Morgen, da steckt Yukio Mishima schon akribisch in den Vorbereitungen für den anbrechenden Tag. Der 45jährige ist sofort hellwach, rasiert sich, duscht, legt ein frisches weißes fundoshi an, ein Lendentuch aus Baumwolle. Darüber streift er seine Tatenokai-Uniform, das Erkennungszeichen der von ihm gegründeten „Schildgesellschaft“, eine Art Privatmiliz, die aus rund 100 ihm treu ergebenen Studenten besteht.

Mishima ergreift sein aus dem 17. Jahrhundert stammendes Samurai-schwert, das katana, und tritt vor die Haustür. Auf dem Wohnzimmertisch hinterläßt er einen Umschlag, der die letzten Seiten seiner Romantetralogie „Das Meer der Fruchtbarkeit“ enthält, sein Opus Magnum, an dem er sechs Jahre lang akribisch gearbeitet hat. Zu diesem Zeitpunkt, am 25. November 1970, ist Mishima Japans bekanntester Schriftsteller. Dreimal nominierte ihn die Jury für den Literaturnobelpreis, sein weltweiter Ruhm eilt ihm voraus. Heute aber will er unsterblich werden.

Gemeinsam mit vier jungen Studenten der Tatenokai-Miliz fährt der glühende Nationalist gegen 10 Uhr zum Hauptquartier der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte in Tokio, wo er mit dem befehlshabenden General verabredet ist. Doch ein nettes Pläuschchen soll es nicht geben. Das Besuchskommando nimmt den hochrangigen Militär kurzerhand in dessen Büro als Geisel und verkündet dem perplexen General ihren absurden Plan: Die rund 1.000 Mann Besatzung der Kaserne sollen sich unverzüglich auf dem Vorplatz sammeln. Mishima will vom Balkon aus eine Ansprache halten. Um Punkt 12 Uhr setzt der Weltliterat schließlich zu seiner Rede an, die Soldaten warten bereits. Journalisten strömen herbei, auch ein Polizeihubschrauber kreist über dem Geschehen. Mit ungläubigen Blicken schauen alle Anwesenden auf den 1,63 Meter kleinen Mann, der die nächsten Minuten auf dem Balkon unermüdlich gegen den Lärm anschreit ... und tatsächlich einen Staatsstreich fordert.

Yukio Mishima wird am 14. Januar 1925 unter seinem bürgerlichem Namen Kimitake Hiraoka in Tokio geboren. Er ist Sohn eines hohen Ministerialbeamten, seine Familie entstammt einem alten Samurai-Geschlecht. Die Kindheit verbringt der kränkliche Junge unter der Erziehung seiner Großmutter. Sozial isoliert, entdeckt er früh seine Leidenschaft für Literatur und Sprache. Bisweilen entwickelt er eine eigentümliche Faszination für heroische, maskuline Formen und Figuren, was sich später auch in seinen Werken abzeichnet. 

Vier Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erscheint sein bereits zweiter Roman, der ihm schließlich mit nur 24 Jahren zum Durchbruch verhilft. Die autobiographisch gefärbten „Geständnisse einer Maske“ werden ein Sensationserfolg, nicht nur in Japan, sondern auch in der englisch- und französischsprachigen Welt. Mishima, der fließend Deutsch und Englisch spricht, experimentiert fortan mit einem breiten Spektrum literarischer Traditionen – von der Romantik bis zur Science-fiction, von philosophisch bis skandalös, von satirisch bis pathetisch. Er schreibt Romane, Bühnenstücke, Kurzgeschichten, Gedichte, dreht Filme. Seine Werke bettet er immer wieder in die beiden primären Charakteristika der traditionellen japanischen Kultur ein – Schönheit und Brutalität, bei Mishima vereint in einem ästhetischen Ideal, das als Widerstand gegen die Moderne zu verstehen ist.

„Ob links oder rechts – ich bin für Gewalt“

Sein Denken durchdringt ein Aufschrei gegen die „Verwestlichung“ der japanischen Kultur und die geistige Leere, die diesem Vorgang innewohnt. Jene Moderne also, die keinen Platz mehr für Helden oder tragische Schicksale hat. Jene materialistische Welt, die sich an Erfolgszahlen mißt und keine höhere Erlebniswelt mehr kennt. Der Tod habe heute keine Dramatik mehr, bedauert Mishima zutiefst. „Wir leben in einem Zeitalter, in dem es keinen heroischen Tod mehr gibt.“ Er hält die Vorstellung, daß man nur um seiner selbst willen leben kann, „für offenkundig vulgär“.  Wenn man keinen höheren Wert finde, der sich selbst transzendiert, werde das Leben selbst, in einem spirituellen Sinne, bedeutungslos.

Im heroischen Sterben in der Tradition der Samurai, dem rituellen seppuku, sieht Mishima dieses Ideal vollendet. Kunst und Tat bilden hier eine Einheit, und Mishima versucht auch die eigene Persönlichkeit danach zu formen. Er weiß: das größte Geheimnis des Lebens liegt in einer simplen Botschaft, die auch heutzutage nichts von ihrer Bedeutung verloren hat: Wenn du dich so verhältst, wie du wirklich sein willst, dann wirst du dich auch zu dieser Person entwickeln. Er sieht sich zunächst als Künstler und als sich die Dinge in ihm zu entwickeln beginnen, fängt er damit an, sich selbst auf andere Weise zu betrachten. Sein Leben und die Kunst verschmelzen.

Der eigenen Todessehnsucht nähert sich Mishima am prägnantesten in der Kurzgeschichte „Patriotismus“, die vom gemeinsamen feierlichen Suizid eines jungen Offiziers und seiner Ehefrau erzählt. Der blutige Akt des seppuku vollzieht sich dabei detailliert in einer gewaltigen Sprache über mehrere Seiten hinweg.

Sein eingeschlagener Weg führt Mishima schließlich auch in den politischen Aktivismus. Ein knappes Jahr bevor der Schriftsteller den Umsturz probt, ist er an der Universität von Tokio zu Gast. Mishima nimmt an einer Diskussion mit linksradikalen Studenten teil, den zengakuren, die sich im Januar 1969 tagelange Straßenschlachten mit der Polizei geliefert hatten. Das Auditorium platzt aus allen Nähten, niemand will sich dieses Spektakel entgehen lassen.

Mishima tritt von der ersten Minute an völlig schmerzbefreit auf: „Ob links oder rechts – ich bin für Gewalt“, ruft er in den verrauchten Saal hinein. Auch wenn die Anwesenden es nicht glauben mögen: „Wir haben viel gemeinsam“, versucht er die Brücke zu den marxistischen Studenten zu schlagen. „Eine rigorose Ideologie und eine Neigung zur Gewalt. Ich glaube an eure Leidenschaft.“ Bislang könnten sie sich einander lediglich zulächeln, „aber wir dürfen uns nicht küssen“. Dabei ständen die Studenten und er praktisch für dasselbe ein, hätten dieselben Karten auf dem Tisch. Nur habe er noch einen Joker, fügt Mishima geheimnisvoll hinzu: „Den Kaiser.“ Doch welche Rolle spielt der tenno für ihn?

Schon im Januar 1946 hatte Kaiser Hirohito in der Neujahrsansprache seine eigene Göttlichkeit verneint und damit die japanische Kriegsniederlage auch kulturell und seelisch zementiert. Dieser Tiefpunkt, der Tod Gottes, der seit Friedrich Nietzsche bereits die Abendländer verzweifeln ließ, traf die japanische Gesellschaft mit voller Wucht. Zwar war der tenno kein metaphysisches Wesen, doch die Transzendenz, die er verkörperte, war kaum zu leugnen. Die Gedanken der Nation liefen unmittelbar in ihm zusammen. All dies zersplitterte und an die Stelle seiner Person trat die zerstreute Existenz des einzelnen, die Mishima so sehr ablehnte.

Am 25. November 1970 fordert er also auf dem Balkon nichts Geringeres als die Wiedereinsetzung des Kaisers. Er beschwört den nationalen Geist, verweist auf das militärische Ideal Japans, warnt vor der Dekadenz der Moderne. Doch die Soldaten lachen ihn nur aus, die Zeiten sind längst andere. „Komm herunter! Das genügt!“ An einen Erfolg seines grotesken Schauspiels hat Mishima ohnehin nicht gelaubt. „Tenno heika banzai!“ (Lang lebe der Kaiser!) ruft der Schriftsteller in den Himmel und kehrt zurück ins Büro des Generals. Ruhig und gelassen knüpft er seine Uniform auf. Nun beginnt der letzte Akt seines Lebens. Er nimmt das katana, rammt es sich unterhalb des Nabels in den Bauch und schneidet – wie das heilige seppuku-Ritual es verlangt – quer durch seine Eingeweide. Stöhnend sackt er zusammen. Anschließend enthauptet einer der jungen Begleiter seinen Anführer mit einem Schwerthieb.