© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/20 / 20. November 2020

Ein Griesgram blickt zurück
Literatur: „Der letzte Satz“ begleitet den Komponisten Gustav Mahler auf einer Schiffs- und Seelenreise
Dietmar Mehrens

Es ist schon erstaunlich, was heutzutage alles als Roman in die Buchläden kommt. Das schmale Bändchen, das im Sommer unter dem Titel „Der letzte Satz“ die Belletristik-Bestsellerlisten stürmte und es auf die „Longlist“ für den Deutschen Buchpreis schaffte, verdient diese Bezeichnung strenggenommen nicht. 

Auch wer nie einen Satz seines Autors, Robert Seethaler, gelesen oder eine Lesung mit ihm besucht hat, könnte seine Stimme kennen und dem, was er zu sagen hat, bereits aufmerksam gelauscht haben. Zum Beispiel Ende Oktober beim ZDF-Montagskrimi „Das Tal der Mörder“ oder einer Folge der Krimiserie „Ein starkes Team“, in der Seethaler als Gerichtsmediziner Dr. Kneissler regelmäßig zu sehen war. Denn der Mann ist ein gefragter Schauspieler.

Eine klassische Bildungsbürger-Lektüre

Aus dem Schatten seiner vielen Nebenrollen trat er 2014, als er mit einem ebenfalls eher schmalen Büchlein auf der Spiegel-Bestsellerliste ganz nach oben stürmte. „Ein ganzes Leben“ war vieles, was „Der letzte Satz“ nicht ist: handlungsintensiv, abwechslungsreich, aufwühlend. Seethaler erzählte darin die komplette Lebensgeschichte eines in den Bergen lebenden bodenständigen Mannes namens Andreas Egger. Der Spiegel meinte das Buch in die Nähe eines Plagiats rücken zu müssen, indem er feststellte, daß ein ganzes Leben als Romanstoff schon einmal von John Williams in „Stoner“ erzählt worden sei. Genausogut hätte man „Winnetou“ verdächtige Parallelen zu „Der gebrochene Pfeil“ zum Vorwurf machen können, weil es in beiden Western um Weiße und Indianer geht, die miteinander sprechen.

Daß auch Seethalers neues Buch zum Verkaufsschlager wurde, hat viel mit seinen alten zu tun und wenig mit dem, was „Der letzte Satz“ selbst zu bieten hat. Erzählt wird nämlich ziemlich wenig und noch weniger Spektakuläres. Selbst die Begebenheit, die sich am Ende auf dem Schiff zuträgt und das Buch in die Nähe einer Novelle rückt, ist nicht so unerhört, daß man ins Staunen gerät.

Die unaufdringlich-schlichte Erzählung des Österreichers ist eine klassische Bildungsbürger-Lektüre. Sie befriedigt das Interesse einer großen Leserschaft an realen Figuren und historischen Stoffen. Die reale Figur ist in diesem Fall Gustav Mahler (1860–1911), der legendäre Wiener Hofoperndirektor. In Machart und Ton ist das Buch vergleichbar mit Walter Kappachers Hofmannsthal-Roman „Der Fliegenpalast“ (2009), der verschiedenen Stationen im Leben von Mahlers Zeitgenossen Hugo von Hofmannsthal nachspürt und wie „Der letzte Satz“ eine Berühmtheit im traurigen Herbst ihres begnadeten Daseins zeigt: Der Körper rebelliert, und Selbstverständlichkeiten lösen sich auf.

Wir sehen den famosen Dirigenten und Komponisten im April 1911 an Bord der „Amerika“ auf der Rückreise von New York nach Europa. Er sitzt allein auf dem Sonnendeck am Heck des Schiffes, wird regelmäßig von einem Jungen mit Tee und wärmenden Decken versorgt und denkt in Anfällen „bösartiger Resignation an die Nichtigkeit des Lebens“. Der Himmel über ihm ist leer, Gott, den er viel zu wenig geehrt hat, fern. Begleitet wird Mahler von seiner Tochter Anna und seiner Frau Alma, der „schönsten Frau Wiens“, die nach Mahlers Tod noch Oskar Kokoschka betören, Walter Gropius ehelichen und Franz Werfel zu dessen Nachfolger machen sollte.

Der Maestro blickt zurück auf seine zehn Jahre als Operndirektor in Wien, auf glückliche Tage mit Alma in seinem malerisch gelegenen Feriendomizil in den Südtiroler Bergen samt eigenem Komponierhäuschen, auf die triumphale Uraufführung seiner meisterhaften 8. Symphonie in München (1910). Er sieht sich rückblickend bei der Ankunft in New York anläßlich seines Engagements an der Metropolitan Opera, in Paris, wo Auguste Rodin eine Büste von ihm anzufertigen versucht, und mit Freud in Leiden. (Gemeint sind natürlich der berühmte Wiener Psychoanalytiker und die holländische Universitätsstadt.)

Leiden sieht man Gustav Mahler generell viel. Er leidet unter dem frühen Verlust der geliebten Tochter Maria, 1907 mit vier Jahren an Diphtherie gestorben, und der eigenen Hinfälligkeit, die den nahen Tod erahnen läßt. Vor allem aber leidet Mahler an sich selbst, an den Charakterfehlern, wegen der er seine Angebetete Alma fast an einen Nebenbuhler verloren hätte: Walter Gropius, von Mahler herablassend „Baumeister“ genannt. Der Stardirigent neigt zu Griesgrämigkeit und Schlechte-Laune-Attacken. Ein echter Künstler eben. 

Seethaler reiht reichlich unsortiert Anekdoten aus dem Leben des berühmten Komponisten aneinander und entwirft so zwar ein einfühlsames Porträt des Ausnahmekünstlers, der einem als Figur rasch vertraut wird. Sonst gibt es aber wenig, was die Geschichte trägt. Ein Spannungsbogen ist bei dieser Gedankenreise zu einzelnen Stationen ins Gestern nicht erkennbar. 

Robert Seethaler: Der letzte Satz. Roman. Hanser Berlin, 2020, gebunden, 128 Seiten, 19 Euro