© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/20 / 20. November 2020

Rauschen und Schweigen im Weltstaat
Uniformes Globalbewußtsein: Wer die gesamte Menschheit beansprucht, der benötigt weder ein Territorium noch ein Staatsvolk
Konstantin Fechter

Das barocke Forsthaus von Wilflingen diente Ernst Jünger über vier Jahrzehnte als Wohnsitz in oberschwäbischer Beschaulichkeit. Noch heute besitzen die dunklen Räume eine eigentümliche Atmosphäre, als wäre die Schaffenskraft an dieser Stelle niemals wirklich versiegt. In seinem Arbeitszimmer nahm der zunehmend altersmilde Schriftsteller auf einem fellbehangenen Stuhl Platz, die Augen auf das obligatorische Mikroskop oder den Nachdruck eines Gemäldes von Pieter Bruegel dem Älteren gerichtet, das den Turmbau zu Babel zeigt. Die Vorstellung gefällt, daß dort Meister auf Meister blickte und über die Irrungen und Wirrungen einer unvollendeten Menschheitsgeschichte nachdachte.

Auf dem Gemälde herrscht noch nicht die Konfusion der babylonischen Sprachverwirrung. Vielmehr zeigt es den selbstzufriedenen Stolz des Menschen, seinem Gott einen Schritt näher gekommen zu sein. Der Betrachter ist sich unschlüssig, ob er zuerst die gigantomanische Turmkonstruktion (die Anmaßung) oder König Nimrod und sein Gefolge (die Anmaßenden) betrachten soll. Begannen jene wirklich eigenständig mit der Errichtung einer Treppe zum Himmel oder wählte die Hybris selbst die Träger ihrer Vermessenheit aus? Sicherlich wird Jüngers Blick des öfteren Bruegels Arbeit gestreift haben, als er an seinem 1960 erschienenen Essay „Der Weltstaat“ arbeitete.

Ein uniformes Globalbewußtsein

Sein Spätwerk war durchdrungen von dem Gedanken, daß sich eine Zeitenwende ankündigte, welche die Kulturepoche des Abendlandes unumkehrbar beenden würde. Er begegnete dem mit der Fassung eines Mannes, der nach zwei Weltkriegen durch nichts mehr zu erschüttern war. Und gerade daher mag die Beschäftigung mit dem älteren Jünger heutzutage vielleicht ertragreicher ausfallen als mit dessen Stahlhelmprosa. Für ihn stand fest, daß der Staatenpluralismus, dieser bunte, über Europa und die ganze Welt verteilte Flickenteppich unterschiedlichster Souveränität, Hegemonie und Traditionen, an sein Ende gekommen war.

Jünger erkannte die beginnende Dämmerung der Globalisierung, die es vermag, auf ihren gigantischen Datenaquädukten die Zeit selbst schneller fließen zu lassen. Eine Woche heute ist nicht mehr dieselbe Maßeinheit wie zu Jüngers Zeiten. Und so hat sich auch der von ihm prognostizierte globale Stil einer transnationalen Gleichförmigkeit mit rasanter Geschwindigkeit entwickelt. Das Paradoxon des 21. Jahrhunderts besteht darin, daß das Staatenregister der Erde noch nie mehr Einträge enthielt, aber diese zugleich immer weniger Eigenständigkeit und Handlungsfreiheit besitzen. Es spielt immer weniger eine Rolle, ob Ereignisse in Berlin, Madrid oder Oregon stattfinden, sie werden von Sensoren aus allen Richtungen empfangen und einem weltweiten Bewußtsein zugeführt. Die lokalen Bühnen haben die Hoheit über die Dramatik ihrer Aufführungen verloren. Inhalt und Bilder der Geschehnisse ähneln sich zumeist auf frappierende Weise. Hinter den Fassaden der Nationalstaaten regt sich ein amorpher und unbeständiger Leviathan, dessen Wesen ein anderes ist als jener Monismus der Totalitarismen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Schon Jünger erkannte, daß dieser sich bildende Weltstaat ein Über-Staat sein würde, der mit bisherigen Staatslehren und -strukturen nicht mehr zu erfassen sei: „Mit dem Eintritt in seine finale Größe gewinnt der Staat nicht nur sein räumliches Maximum, sondern zugleich eine neue Qualität. In ihr hört er auf, im historischen Sinne Staat zu sein. Damit nähert er sich anarchistischen Utopien, oder zumindest widerspricht ihre Möglichkeit nicht mehr der Logik der Tatsachen. Die Machtfragen sind geklärt.“

Das Neuartige des einen Weltstaates besteht in einer vollständigen politischen Raumnahme bei parallelem Verlust der Staatlichkeit, da es kein Pendant mehr zu ihm gibt. Wer nicht weniger als die gesamte Menschheit beansprucht, der benötigt kein geographisches Territorium und auch kein Staatsvolk zur Untermauerung seiner Herrschaft. Vereinheitlichung führt jedoch zur Konturlosigkeit. Unter dem postmodernen Weltstaat ist daher vielmehr ein uniformes Globalbewußtsein zu verstehen, das immer weiter um sich greift. Einheitliche Warenangebote in jeder Innenstadt bezeugen diesen identischen Geschmack. Hinter ihm verbergen sich schablonenhafte Auffassungen von Geschichte, Identität und Lebensführung. Begriffe erfahren keine Erörterung mehr, verengen sich auf Schlagworte und verlieren ihre Substanz. Noch überwiegend ein lokales Gesetz des Westens, dringt es jedoch längst in bisher unerschlossene Gebiete vor, was das rigorose Abwehrverhalten der chinesischen Volksrepublik gegenüber seiner Einflußnahme erklärt. Rußland hingegen nähert sich diesem Bewußtseinszustand schrittweise an und wird ihn in der Post-Putin-Ära übernehmen.

Seine Verfassung ist von mentaler und moralischer Natur, nicht aber von rechtlicher Verbindlichkeit. Wie Handlungen bewertet werden, steht daher über dem eigentlichen Motiv des Handelnden. Das kurze Aufflackern der Demonstration nationalstaatlicher Handlungsfähigkeit wie etwa nach Ende des Kalten Krieges oder auch in der Coronakrise kann nicht über die eigentliche historische Tendenz hinwegtäuschen. Mit der Abwesenheit einer klassischen Form bei dennoch ungebrochener Möglichkeit zur Machtausübung zeichnet sich die Qualität des Weltstaats durch eine Janusköpfigkeit aus. Das macht ihn hochgradig inklusiv wie exklusiv zugleich. Jeder kann sich ihm anschließen, zugleich steht jeder nur eine unbedachte Aussage entfernt davor, in die soziale Peripherie dieses Imperiums verbannt zu werden.

Der Datenpöbel bestraft Widerspenstige

So vernetzt sich eine oligarchische Klasse der Privilegierten, für die die Entfernung zwischen den Kontinenten keinerlei Bedeutung mehr hat. Bejubelt wird dieser supranationale Lebensstil von der Glasfaser-Ochlokratie einer immer enthemmter werdenden Netzkultur. Während erstere tatsächlich die Mittel für ein völlig ungebundenes Nomadenleben haben, begnügt sich der Datenpöbel damit, daß er die Fähigkeit besitzt, überall auf dieser Erde den ersten digitalen Stein zu werfen. Seine Sprache ist das babylonische Rauschen, eine unüberschaubare Kakophonie ungefilterter und ungehörter Beiträge, die keinerlei Substanz in sich bergen außer dem Übertönen von gegensätzlichen Meinungen. Eine Masse unzähliger Gedanken, Gefühlsausbrüche und Projektionen des flüchtigen, ungefestigten Menschen, die sich durch unreflektierte und von überall auf dem Planeten hastig abgesonderte Wortfetzen im exponentiellen Wachstum befindet. Der Erregungszustand ist permanent hoch. Es ist ein diffuses Gebilde des Raunens, der Novellierung und des Ressentiments gegenüber dem Überkommenen. Kultur dient in diesem Zusammenhang nur noch dem Zweck ihrer Negation. 

War früher die strategische Beherrschung von Land und Meer das Ziel staatspolitischen Handelns, ist nun die Hegemonie des digitalen Äthers von entscheidender Bedeutung. Souverän ist, wer dort identitäre Narrative erzeugen kann, die, sobald sie einmal geboren sind, von Wirt zu Wirt schwirren und Bewußtseinszustände prägen. Agendaplazierung ersetzt die Staatsräson des Weltbürgertums. So entsteht ein postmoderner Turmbau zu Babel, der aggressiv beäugt, wer sich seiner Gigantomanie in Form des verschwommenen Traums von einem irgendwie besseren Menschen entzieht.

Die dieser Entwicklung widerstrebenden Teile werden aus der weltstaatlichen Vergemeinschaftung aufgrund mangelnden Glaubens ausgestoßen. Traditionalisten, Bewegungsunwillige und in sich selbst Ruhende werden zum metaphysischen Globalisierungsverlierer einer sich immer schneller entordnenden Welt. Das ominöse Rauschen erklärt sie zu Feinden der Weltgesellschaft und drängt sie an ihre Ränder. Die Urteile werden heute am Fließband produziert. Der dahinter waltende argumentative Taylorismus kombiniert beliebige Versatzstücke zu einer halbgaren Anklage, die in jedem Prozeß zum selben Verdikt der Geschworenen führt: Ketzer, Apostat, Menschenfeind.

Die Bildung scheinlogischer Ketten läßt jeden verdächtig erscheinen, der den Fehler macht, sich an der falschen Stelle zu äußern. Anders als totalitäre Regime wirkt der Weltstaat unterhalb der Schmerzgrenze. Er diszipliniert durch Verlusterzeugung, indem er nicht offenkundig den Leib schindet, sondern durch Entzug bestraft. Soziale Stigmatisierung, Arbeitsplatzverlust und Ausgrenzung ersetzen Schafott und Beil. Pranger und Galgenberg erfahren eine digital untermauerte Renaissance, und der Datenpöbel johlt über jede Vollstreckung. 

Die Kehrseite des unaufhörlichen Rauschens ist das große Schweigen derjenigen, die nicht darin einstimmen. Dort bleibt nur die Wahl zwischen waldgängerischer Kontemplation oder Radikalisierung zum Systemfeind, was einer selbsterfüllenden Prophezeiung gleicht und die gegen ihn in Stellung gebrachten Verleumdungen im nachhinein legitimiert. Denn Meinungsfreiheit ist ein Recht gegenüber einem Staat und seinen Institutionen, nicht jedoch gegenüber den ephemeren Grundlagen eines Weltbewußtseins. Dort kumulieren die höchsten moralischen Ansprüche mit der Entrechtung der Widerspenstigen.

Je stärker sich der Weltstaat als globaler Stil manifestiert, desto schwächer werden die originären Staaten in ihrer Handlungsfähigkeit. Sein babylonisches Rauschen untergräbt bisherige Autoritäten und blockiert die Synapsen ihrer Exekutivorgane. Alle Gewalt jenseits der weltstaatlichen Machtdemonstration steht unter Rechtfertigungsdruck. Der Schutz der Bürger, das Aufrechterhalten von Ordnung und fiskalischer Unabhängigkeit entgleitet den letzten Mandarinen immer mehr. Sie kompensieren ihren Bedeutungsverlust durch die rigorose Durchsetzung einer Scheinordnung.

Das Milieu ersetzt die Bürgerschaft

Dabei gilt Recht nur noch für diejenigen, die es sich gefallen lassen. Die anderen arbeiten auf unterschiedliche Art an rechtsfreien Räumen, das Milieu ersetzt die Bürgerschaft. Je überdimensionierter der Anspruch der Weltgesellschaft, desto wahrscheinlicher die Herrschaft lokaler Tyrannen. So wird die Verbindlichkeit einer öffentlichen Ordnung durch das Oszillieren zwischen Permissivität und Repression ersetzt. Es schwingt wie ein Pendel, dessen genauen Stand niemand mehr verorten kann. Unsicherheit, physisch wie metaphysisch, wird zur Grundemotion des globalen Stils. Je verängstigter, desto größer das Drängen unter den schützenden Schild seiner Heilsversprechen.   

Hinter dem Weltstaat verbirgt sich keine lenkende Hand, keine große Verschwörung. Es gibt weder einen geheimen Plan noch einen interessierten Dritten. Nur die Verknüpfung von verschiedenen Ableitungen einer fehlgeschlagenen Moderne. Er ist lediglich Stil einer Zeit der großen Vereinfachung. Das mag es erträglicher, das mag es unerträglich machen. Die Wahl obliegt jedem Betrachter selbst.

Die Menschheit hat jedoch bisher alle ihre Staaten überdauert. Auch das babylonische Rauschen wird wieder zu einer klaren Sprache finden. Es bleibt die Zuversicht, daß eines Tages die Erinnerung an den Weltstaat nicht viel mehr als ein schauriges Schütteln sein wird, welches die Besucher eines barocken Forsthauses überkommt.