© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/20 / 27. November 2020

Bekenntnisse unter einer Maske
Parteitag: Unter strengen Auflagen will die AfD ihr Sozialprogramm beschließen / Vorstandsnachwahlen
Christian Vollradt

Stundenlange Debatten, Sitzungsmarathon bis in den späten Abend, dazu die Mundschutzpflicht auch am Sitzplatz – und Abstandsregeln. Keine Frage, der Bundesparteitag der AfD an diesem Wochenende im niederrheinischen Kalkar (JF 42/20) wird alles andere als vergnüglich. Die Stimmung bei vielen Funktionären im Vorfeld? Wie vor einem runden Geburtstag der schwerhörigen Erbtante mit Mundgeruch – keiner will hin – aber es muß halt sein.

„Bei dem Thema ist die Kuh vom Eis“

Weil die Genehmigung, eine Veranstaltung mit rund 700 Teilnehmern abhalten zu dürfen, unter dem Vorbehalt strenger Auflagen steht, herrscht in der Partei die Sorge, womöglich könnten sich einzelne besonders motivierte „Corona-Rebellen“ strikt weigern, die strengen Regeln einzuhalten. Was dann? Könnte es soweit kommen, daß die Gesundheits- oder Ordnungsbehörden den Parteitag wegen Verstoßes gegen den Infektionsschutz auflösen lassen? Oder dürften unbotmäßige Delegierte zwangsweise von der Versammlung ausgeschlossen werden? Wäre dies nicht eine Verletzung der Mitgliedsrechte der Betroffenen? Könnten sie im nachhinein die Gültigkeit der Beschlüsse anfechten?

Gerade weil solche Befürchtungen in der Partei vermehrt die Runde machen, gibt sich das Mitglied eines AfD-Landesvorstands eher gelassen. Jedem sei doch klar, welche Konsequenzen ein geplatzter Parteitag habe, meint der Politiker, und ergänzt: „Allein schon, was das für ein finanzieller Schaden wäre …“ Andere sind weniger optimistisch. „Bei so vielen Teilnehmern lege ich nicht für jeden meine Hand ins Feuer“, so ein führendes Parteimitglied. Einigkeit besteht darin, daß die äußeren Umstände stark „auf die Stimmung drücken“ werden. 

Die ist spätestens seit dem Konflikt um den Rauswurf des ehemaligen Brandenburger Landesvorsitzenden Andreas Kalbitz, dem maßgeblichen Strippenzieher des inzwischen aufgelösten „Flügels“, ohnehin getrübt. Das Vertrauen zwischen den beiden Vorsitzenden Jörg Meuthen und Tino Chrupalla gilt als nachhaltig gestört. Kritische Töne werden sicherlich bei der Aussprache zum Bericht des Bundessprechers zu vernehmen sein. Noch weiter geht der Antrag des Rechtsauslegers Dubravko Mandic aus dem Kreisverband Freiburg: „Der Bundesparteitag mißbilligt das spalterische Gebaren von Bundessprecher Jörg Meuthen und seinen Parteigängern.“ Allgemein ist schwer einzuschätzen, wie stark und wie geschlossen der ehemalige Flügel beim ersten Parteitag nach seiner offiziellen Auflösung in Erscheinung treten wird. „In Kalkar werden wir endlich einmal wieder feststellen können, wie die Mehrheitsverhältnisse in der Partei wirklich sind“, erwartet ein Spitzenfunktionär.  

Unter dieser Prämisse finden am Sonntag die Nachwahlen für zwei Posten im Bundesvorstand statt. Erster Stimmungstest dürfte das Ergebnis für den neuen Schatzmeister sein. Für das Amt kandidiert der aktuelle Stellvertreter Carsten Hütter; dessen Nachfolger soll nach Wünschen der Vorstandsmehrheit Christian Waldheim aus Schleswig-Holstein werden. Und je nach Ausgang wird sich das Kandidatenfeld für den zu wählenden Beisitzer-Posten sortieren. Die sogenannte „Meuthen-Mehrheit“ wäre auch dann nicht passé, wenn sich seine parteiinternen Widersacher durchsetzen würden. 

Das eigentliche Thema des Parteitags – die Sozialpolitik und ein verbindliches Rentenkonzept der AfD – hat allem Anschein nach sein Aufreger-Potential weitgehend eingebüßt. Das mag auch damit zusammenhängen, daß der Leitantrag, ohnehin ein Kompromiß zwischen der eher sozialstaatlich und der eher wirtschaftsliberal ausgerichteten Strömung, schon eine Weile vorliegt; er wäre ohne Corona bereits im April zur Abstimmung gebracht worden. „Bei dem Thema ist die Kuh vom Eis, da ist nichts Revolutionäres zu erwarten“, meint ein erfahrener AfD-Politiker. Soll heißen: Weder in der einen noch der anderen Richtung würden sich maximale Forderungen durchsetzen. Auch ein anderer Abgeordneter sieht diesem Teil der Beratungen trotz der über 40 Änderungsanträge gelassen entgegen. „Da erkenne ich kein Spalt-Potential“, meint er im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT.

Spannender wird indes, wie sich die Delegierten zur Idee eines Staatsbürgergelds stellen. Diese Form eines bedingten Grundeinkommens, verknüpft mit einer negativen Einkommenssteuer, hatte der sozialpolitische Sprecher der AfD im Bundestag, René Springer, ausgearbeitet (JF 42/20). In Kalkar steht es als erster Änderungsantrag zum Leitantrag auf der Tagesordnung.

Von der würden manche hochrangige Mitglieder gerne einen Antrag von Björn Höcke und mehreren Vertretern der Ost-AfD fernhalten. In ihm soll der „Mißbrauch des ‘Verfassungsschutzes’ zu parteipolitischen Zwecken“ verurteilt werden. Das Ziel ist sicherlich Konsens in der Partei; für politisch höchst unklug halten Kritiker – vor allem aus den West-Verbänden – allerdings die These, ohne eine Reform sei „kein ‘Verfassungsschutz’ besser als ein politisch mißbrauchter“. Ausgerechnet in der sensiblen Phase der Beratungen der Innenminister über eine mögliche Beobachtung der Gesamtpartei wäre diese Forderung kontraproduktiv. Erst kürzlich hatte die AfD-interne „AG Verfassungsschutz“ bei einem Treffen von AfD-Spitzenvertretern mit juristischen Experten mehr Sensibilität füt diese Gefahr angemahnt. 

Wie zum Beweis hat nun der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Georg Maier (SPD), ein Verbot der AfD nicht mehr ausgeschlossen. „Die gesamte Partei entwickelt sich in eine rechtsextremistische Richtung“, meinte Thüringens Ressortchef.