© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/20 / 27. November 2020

Eine Diskriminierung kommt selten allein
Identitätspolitik: Mehr Quoten- und Minderheitenpolitik oder soziale Verantwortung – die politische Linke sucht den richtigen Weg
Björn Harms

Wer oder was bin ich? Welche Aspekte meiner eigenen Person halte ich für gewichtiger als andere? Und welche Rolle spielen diese für mein politisches Handeln? Seit einigen Jahren bereits hat sich der Begriff „Identitätspolitik“ fest in den politischen Debatten etabliert. Gemeint ist das Bedürfnis, eine Gruppe von Menschen in den Mittelpunkt des eigenen politischen Handelns zu stellen. Angestrebt wird nicht nur die Anerkennung der jeweiligen Gruppe, sondern auch die Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Stellung und die Stärkung ihres Einflusses. Kurzum: Es geht um Macht.

Dabei ist dieser Machtbezug zunächst  nichts Verwerfliches. „Eigentlich bräuchte es für das alles die besondere Bezeichnung ‘Identitätspolitik’ gar nicht“, meint der Politologe Werner J. Patzelt gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Es reiche, eingebürgerte Begriffe wie „legitimes Gruppeninteresse“ und „pluralistischer Konflikt“ zu nutzen. Die Probleme setzen jedoch ein, wenn verschiedene Interessen kollidieren und das Individuum und seine Leistungen zunehmend aus dem Blickfeld geraten. Vor allem auf der  Linken streiten sich die Vertreter aller dort beheimateten Parteien immer häufiger um die Wichtigkeit des Anliegens.

Frauenquote auf Bestreben von Giffey eingeführt

Der zentrale Konflikt lautet: Wollen wir wirklich Partikularinteressen in den Vordergrund stellen, setzen wir auf immer spezieller werdende Minderheiten und fordern Quoten, wie es vor allem jüngere Linke verlangen? Oder besinnen wir uns auf die altlinke Forderung nach sozialer Verantwortung, die wohl einem Großteil der Bevölkerung am Herzen liegt? „Identität bietet nun einmal einen großen normativen und und emotionalen Mehrwert“, bemerkt Patzelt gegenüber der JF. „Weil es hier um eine solche Ausprägungsform der Menschenwürde geht, die immer wieder gegen ‘gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit’ verteidigt werden muß. Und auf eben diesen Mehrwert kommt es Linken bei ihren identitätspolitischen Debatten an.“ 

Doch im linken Lager mehren sich die kritischen Stimmen: Die derzeitige Linke bewege sich in eine „politische Sackgasse“, befand Mitte November der Autor Bernd Stegemann im Freitag. „Erstens sind nicht alle Interessen gleichzeitig durchzusetzen, und zweitens werden sie von der Öffentlichkeit unterschiedlich unterstützt.“ Und während einst linke Politik „die Lasten und Pflichten in der Gesellschaft solidarisch verteilen wollte“, werde heute „jeder einzelne danach beurteilt, ob er der herrschenden Moral genügt“.

Er bemerke zunehmend eine Identitätspolitik, „die autoritäre Züge annimmt“, beklagte kürzlich auch der ehemalige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine in der NZZ. „Man will anderen vorschreiben, was sie zu denken und zu sagen haben.“ Die Strategie halte er jedoch nicht für sinnvoll. In erster Linie müsse es Aufgabe linker Parteien sein, „die Arbeitnehmer zu vertreten und die ungerechte Verteilung zu bekämpfen“. Gerade die SPD habe sich jedoch, wie viele sozialdemokratische Parteien, „dem ‘progressiven Neoliberalismus’ zugewandt“. Linkskulturelle Themen stünden im Vordergrund, darunter etwa das Gendersternchen. „Die Verbesserung von Löhnen, Renten und sozialen Leistungen ist nicht mehr das Zentrum sozialdemokratischer Politik“, so der frühere Parteivorsitzende der Linken. 

Erst in der vergangenen Woche hatte sich die Große Koalition auf Bestreben der SPD-Familienministerin Franziska Giffey auf ein Zweites Führungspositionen-Gesetz geeinigt, das eine verbindliche Frauenquote in den DAX-Vorständen vorsieht. Ein Gesetz, das auch in anderen linken Parteien auf Gegenliebe trifft. „Wo freiwillige Selbstverpflichtung nicht hilft, sind Quoten ein wichtiges Instrument für mehr Parität“, heißt es im neuen Grundsatzprogramm der Grünen, das am Wochenende beschlossen wurde. Die Partei will „mehr Frauen in Führungspositionen – in der Politik, in der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft“. 

Auffällig ist dabei, daß jene Quoten stets nur für Positionen gefordert werden, die mit Macht und Geld verbunden sind. Mehr Müllmänner*innen fordert niemand. Gleichzeitig wirft die Festlegung auf Frauen auch die Frage auf: Warum nicht auch Minderheiten per Quote in die Vorstände setzen? 26 Prozent der deutschen Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund, auch Ostdeutsche sind in den Vorständen deutscher Unternehmen deutlich unterrepräsentiert. Warum sollen andere Bevölkerungsgruppen nicht paritätisch vertreten sein? 

In welche Richtung sich die Linke derzeit bewegt und wie zentral die Identität dabei ist, verdeutlichen Publikationen aus dem vorpolitischen Raum. Eine der Galionsfiguren der jüngeren Linken ist die Autorin Alice Hasters, Tochter eines Deutschen und einer schwarzen US-Amerikanerin. Im vergangenen Jahr veröffentlichte Hasters ihr Erstlingswerk „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“, das auf Platz 3 der Spiegel-Bestsellerliste landete. „Es gibt keine Menschenrassen“, schreibt die 31jährige in der Oktoberausgabe der APuZ, der Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung. „Es gibt allerdings eine Erfindung der Menschenrassen – die Rassifizierung“, die eine Hierarchie zwischen den Menschengruppen etabliere. Das bringt sie auf die Formel: „Je höher die Proximität an europäisch-geprägten Ländern, desto priviligierter ist man.“

In dieser Opferhierarchie (der weiße Mann steht als Ausbeuter ganz oben) gibt es eine klare Reihenfolge unter Migranten: „BIPoC aus anderen europäischen Ländern, den USA oder Australien sind strukturell bevorteilt gegenüber jenen in Südamerika, Asien oder in der Karibik“, schreibt Hasters in ihrem Aufsatz. „Und diese wiederum noch höhergestellt als BIPoC aus afrikanischen Ländern.“ 

Somit wird nicht nur eine Hierarchie als gesetzt betrachtet, die auf äußeren, rassistischen Merkmalen beruht, sondern auch ein gesellschaftlicher Umbau mit eingeplant, der für mehr Diversität in Machtpositionen sorgen soll – unabhängig vom Leistungsprinzip. „Wenn wir divers besetzen, ob in Redaktionen, im Bundestag oder im Lehrer*innenzimmer, dann nicht weil man einer Utopie nachjagen möchte“, behauptet Hasters. Man wolle vielmehr „der Realität nachkommen“. Doch welche Realität soll das sein? Welche Bezugskategorien spielen eine Rolle? Fürs Hasters ist es in erster Linie die Hautfarbe, doch was ist mit dem Einkommen, also der Teilung in Arm und Reich? Der sexuellen Präferenz? Der Spaltung in Ost und West? Diese Dinge ließen sich ebenfalls beliebig fortsetzen, bis man wieder beim Individuum angelangt ist.

Noch komplizierter wird es, wenn diese „Marginalisierungen“ in der Theorie des Intersektionalismus verbunden werden, eine Mode, die seit mehreren Jahren aus den US-Universitäten in den linken Diskurs in Deutschland eingesickert ist. Der Intersektionalismus beschreibt die Schnittmenge oder Gleichzeitigkeit von verschiedenen Diskriminierungskategorien gegenüber einer Person. Das heißt, ich kann auch mehrfach diskriminiert sein, was in einem endlosen Nullsummenspiel mündet. Wer steht in der Opferhierarchie höher? Der homosexuelle Weiße, der aus einer Arbeiterfamilie stammt? Oder der heterosexuelle, übergewichtige Schwarze, der in eine Akademikerfamilie geboren wurde?

Ein Mitspracherecht über den tatsächlichen Zustand der Diskriminierung, den eine Person erlebt, wird weißen Menschen jedoch häufig absprochen. Das Argument, das einen zum Schweigen bringen soll, ist schlicht: Du bist – gerade als heterosexueller, weißer Mann – nicht von Diskriminierung betroffen, also kannst du auch nichts dazu sagen. Und hast deine Belehrungen zu unterlassen. So zumindest verlangt es Peggy Piesche, Politikberaterin am Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie, das an die den Grünen nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung angegliedert ist. „In einer weißen Psyche ist Anti-Schwarzsein als Normalität so tief verankert, daß es gar nicht befremdlich zu sein scheint, wenn schwarzen Menschen mit Belehrungen, Fragestellungen und vermeintlichen Richtigstellungen in gleichzeitiger Argumentation begegnet wird“, schrieb sie im Juni in einem Essay für die Stiftung.

Doch bei diesem zwanghaften Fokus auf „weiße Menschen“ als politische Gegner, insbesondere auf den Dämon unserer Zeit, die „alten, weißen Männer“, fragt sich der linke Publizist Michael Bittner (Neues Deutschland, taz, Junge Welt): „Wenn Bündnisse allein dadurch verunmöglicht werden, daß man alles außerhalb der Gruppe als Feind betrachtet, daß man also beispielsweise sagt, alte weiße Männer sind grundsätzlich der Feind oder gehören auf den Müll, wie soll ich dann erwarten, daß dieselben alten, weißen Männer, die vielleicht auch unter bestimmten Diskriminierungen leiden, ökonomischen zum Beispiel, zu Bündnispartnern werden?“





Welche postmodernen Begriffe benötigen Sie, um in linken Theoriezirkeln bestehen zu können?

BIPoC Black (Schwarze), Indigenous (Indigene), People of Color

Cis-Person Person, die in Übereinstimmung mit ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht lebt

Lookismus/Bodyshaming

Diskriminierung aufgrund von gesellschaftlichen Schönheits- und Gesundheitsnormen

Ableismus Diskriminierung von Behinderten 

Othering Distanzierung von anderen Gruppen, um seine eigene „Normalität“ zu bestätigen

Exotismus Form eines eurozentrischen Rassismus, der schwarze Menschen – häufig sexualisierend und herablassend – positiv bewertet („Der edle Wilde“)

Tokenisierung von Diskriminierung betroffene Personen werden nur oberflächlich, weil symbolhaft, repräsentiert, etwa in Gesprächsrunden