© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/20 / 27. November 2020

Freie Rede mit Risiko
Öffentlicher Diskurs: Der zunehmenden Gefährdung der Meinungsfreiheit tritt in Großbritannien eine Free Speech Union entgegen
Julian Schneider

Die Speakers’ Corner im Hyde Park liegt verlassen da. Kaum ein Mensch schleicht sich während des Corona-Lockdowns an der Redner-Ecke nahe dem Marble Arch vorbei. Aber die Szene ist in weiterem Sinne symptomatisch: Um die Rede- und Meinungsfreiheit in Großbritannien steht es – wie in so vielen westlichen Ländern – nicht zum besten; die Tendenzen zur Einschränkung des Meinungskorridors sind auch im Vereinigten Königreich mächtig. In Schottland wird derzeit sogar ein „Hate Speech“-Gesetz vorbereitet, das Menschen gar für in ihren privaten Wohnräumen getätigte Äußerungen bestrafen will.

Der soziale Meinungsdruck hat stark zugenommen

Speakers’ Corner war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Sinnbild dafür, daß in Großbritannien die freie Rede gepflegt wird. Einfache Leute, aber auch Prominente sprachen und sprechen hier. Suffragetten, Sozialisten, Religiöse und Konservative schrien ihre Meinung heraus. Von Karl Marx bis George Orwell traten historisch bedeutende Figuren auf und wandten sich direkt ans Volk. Die Ursprünge der Londoner Redner-Ecke liegen in einer grausamen Geschichte begründet. Nicht weit entfernt stand jahrhundertelang eine große Hinrichtungsstätte: Tyburn Gallows. Bevor man die Verurteilten henkte, durften sie noch eine letzte öffentliche Rede halten.

Das moderne Selbstbild der Briten als einer Nation, die freie Rede besonders schützt, hat wieder Kratzer bekommen. Es häufen sich die Fälle von „sozialen Hinrichtungen“ von Leuten, die mit Äußerungen gegen die politische Korrektheit verstoßen haben. Vorträge an Universitäten wurden abgesagt (beispielsweise die Vorlesung der feministischen Historikerin Selina Todd, der die Trans-Lobby „Transphobie“ vorwirft), Gastprofessoren wurden „gecancelt“ (etwa Jordan Peterson in Cambridge wegen „Islamophobie“), Studenten rausgeschmissen, Journalisten entlassen, Stiftungsleiter oder Lehrer gefeuert.

Der soziale Meinungsdruck hat unzweifelhaft stark zugenommen – von links. Das zeigt auch eine Studie des Politologen Eric Kaufmann vom Birkbeck-College der Universität London: Ihr zufolge wagten ein Großteil der konservativen Akademiker an den britischen Universitäten, die nur noch eine relativ kleine Minderheit darstellen, nicht mehr, ihre Ansichten offen auszusprechen, weil sie Sanktionen befürchten. Der „Chilling effect“ führt zur Selbstzensur.

Seit „Black Lives Matters“ ist es besonders schlimm geworden, findet Toby Young, ein bekannter Journalist und Kolumnist. Wer vor „Black Lives Matter“ nicht sein Knie beugen wolle, lebe gefährlich, sagt er. Young, der als Assistant Editor beim traditionsreichen konservativen Magazin Spectator arbeitet, hat Anfang dieses Jahres eine überparteiliche Organisation gegründet, die sich den Schutz der Rede- und Meinungsfreiheit auf die Fahnen geschrieben hat: die Free Speech Union (FSU).

Sie wendet sich gegen die unselige „Cancel Culture“ – die Auslöschung kontroverser Ansichten und Personen aus dem öffentlichen Diskurs. Wenn eine Uni einen Vortrag absagt, wenn ein digitaler Wut-Mob einen Redner attackiert oder Journalisten unter Beschuß kommen, schreitet die FSU ein, macht den Fall publik, startet Protestkampagnen, hilft Betroffenen vor Gericht. Auf der Linken kommt Youngs Engagement nicht gut an. „Halt’s Maul, du großer Clown“, schmetterte eine Autorin auf der linken Plattform Vice ihm entgegen. Vergangene Woche wurde Young, der sich auch als Lockdown-Kritiker hervortut, auf Twitter von einem Schwarm von Tausenden attackiert, die ihm einen Rechenfehler vorhielten.

Innerhalb weniger Monate hat die FSE 7.000 Mitglieder gewonnen, das Ziel nach einem Jahr sei 10.000, so Young. Zu seinen Mitstreitern zählen der bekannte Journalist und Buchautor Douglas Murray („Der Selbstmord Europas“ und „Wahnsinn der Massen“) und der Oxford-Theologe Nigel Biggar, aber auch nichtweiße liberale Autoren wie Inaya Folarin Iman, eine freie Journalistin und Anti-Zensur-Aktivistin. Im Beirat sitzen 16 Juristen, darunter mehrere Rechtsprofessoren, die bei juristischen Auseinandersetzungen beraten. Etwa eine Viertelmillion Pfund Gerichtskosten plant Young pro Jahr ein.

Schottisches Gesetz sorgt für scharfe Kritik

Oft helfen aber schon kritische Briefe an Institutionen. Dem Radiomoderator Stu Peters etwa, dem ein Disziplinarprozeß drohte, weil er – in einer höflichen Konversation – „All Lives Matter“ gesagt hatte, konnte die Free Speech Union helfen, seine Stelle zu behalten.

Ein anderer Fall hat hohe Wellen geschlagen: Nachdem in einem Interview des jungen Journalisten und Brexit-Aktivisten Darren Grimes der Oxford-Historiker David Starkey sich polemisch über Schwarze geäußert hatte, verlor nicht nur Starkey sofort seinen langjährigen Lehrposten, völlig überraschend marschierte die Londoner Polizei zu dem Journalisten und verhörte diesen stundenlang. Erst nach Protesten aus der Politik entschuldigte sich die Metropolitan Police.

Unter dem Rubrum „Anti-Hate-Speech“ droht der aktuell schärfste Angriff auf die Redefreiheit derzeit in Schottland. Was der dortige Justizminister Humza Yousaf von der linken Regierungspartei SNP als Entwurf einer „Hate Crime and Public Order Bill“ vorgelegt hat, würde Schottland zu einem repressiven Regime machen: Sogar private Gespräche in den eigenen vier Wänden, unter Freunden oder Familienangehörigen, möchte Yousaf polizeilich, strafrechtlich verfolgen, wenn sie angeblich gegen Minderheiten gerichtet sind. In der Times nannte Clare Foges das geplante Gesetz einen außergewöhnlichen Angriff auf die bürgerlichen Freiheiten und fragte, ob man wirklich in eine Situation wie in Maos China kommen wolle, als Jugendliche ihre eigenen Eltern wegen falscher Ansichten denunzierten.

Besorgt haben auch die Kirchen und die Kulturszene reagiert. Die katholische Kirche etwas fragt, ob Priester in Schottland künftig vor dem Kadi landen, wenn sie der neuen Gender- und Trans-Lehre widersprechen. Aufgeregte Warnungen sind aus der Kulturszene zu hören, denn Yousafs „Hate Crime“-Gesetz zielt explizit auch auf Theateraufführungen und Literatur. Auch linke Autoren haben alarmiert reagiert. Die große britische Tradition der Satire stehe damit auf der Kippe. Und John McLellan von der Scottish Newspaper Society warnt, das neue Gesetz sei „eine klare Gefahr“ für alle Medien.

Die gespenstische Stille um die Speakers’ Corner heute steht symbolisch für die Krise der Meinungsfreiheit in einem der westlichen Kernländer, das sich einst viel auf seine liberalen Freiheiten einbilden konnte.