© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/20 / 27. November 2020

Der Tribut an die neue Herrschaft
Bonn schickt nach der Wende Asylanten in die Ex-DDR: Sprengstoff in einer Transformationsgesellschaft
Paul Leonhard

Die Menschen in den neuen Bundesländern gelten noch heute pauschal als permanent ausländerfeindlich. Verwiesen wird dabei auf die gewalttätigen Ausschreitungen gegenüber ausländischen Vertragsarbeitern und Asylbewerbern, die es 1991 im sächsischen Hoyerswerda und im Folgejahr in Rostock-Lichtenhagen gab. Ausgeklammert wird dabei stets, daß die Bundesregierung gezielt geballte Gruppen von Asylbewerbern in den sich nach der Wiedervereinigung noch im Selbstfindungsprozeß befindenden Osten abschob und so soziale Brennpunkte erst künstlich schuf. 

Der Übergang von der sozialistischen Mangelgesellschaft in das Wirtschaftswunderland war schwieriger, als sich viele erhofft hatten. Statt blühender Landschaften war es plötzlich noch grauer geworden: Viele, die gerade noch auf der Straße gegen das Regime protestiert hatten, fanden sich auf der Straße wieder, weil die maroden volkseigenen Betriebe nicht konkurrenzfähig waren. 

Wenig Perspektiven durch die hohe Arbeitslosigkeit

Es ist schwer verständlich, daß Bonn in einer derartigen Situation die Negativstimmung noch dadurch anheizte, indem die am schlechtesten integrierten Asylbewerber in den Osten geschickt wurden. Offiziell berief man sich darauf, daß das Ausländerrecht bundesweit gilt und damit auch auf die neuen Länder nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel anzuwenden sei. Dieser regelt die prozentuale Verteilung von Zuwanderern nach der Bevölkerungszahl und dem Steueraufkommen der Bundesländer. Und da gab es im Osten aus Bonner Sicht enormen Nachholbedarf. Schließlich gab es kaum Ausländer auf der anderen Seite der Elbe.

Die größte Ausländergruppe, die die Bundesrepublik mit Mitteldeutschland übernommen hatte, wurde gerade zurückgeschickt. 560.000 schwerbewaffnete Sowjetbürger zogen gegen Zahlung von zwölf Milliarden D-Mark zurück in ihre Heimat. Die zweite Gruppe waren etwa 95.000 Vertragsarbeiter aus Vietnam, Angola, Mosambique, Kuba, Polen und Ungarn, die ebenfalls im öffentlichen Leben kaum eine Rolle spielten, weil sie in Wohnheimen untergebracht waren. Dazu kamen noch ausländische Studenten und Bürgerkriegsflüchtlinge aus Chile, Spanien oder Griechenland.

Die meisten der Vertragsarbeiter schickte noch die letzte, bereits demokratisch gewählte DDR-Regierung in ihre Heimatländer zurück, bis zum Einheitstag etwa 38.000 Vietnamesen und 12.300 Mosambikaner. Damit waren die Deutschen in der DDR, abgesehen von den zuziehenden Westdeutschen, fast wieder unter sich. Das änderte sich, als ihnen ab 1991 Spätaussiedlerfamilien und jüdische Kontingentflüchtlinge aus den Nachfolgestaaten der Sowjet-union sowie Asylbewerber und Flüchtlinge zugewiesen wurden. Kaum einer kam freiwillig, schon weil die sozialen Bedingungen im Osten viel schlechter als im Westen, die Kommunen ärmer waren und noch immer Wohnungsnot herrschte. 

„Eine Zu- bzw. Einwanderung erfolgte fast ausschließlich über die staatlich reglementierte Zuweisung von Migranten aus dem Ausland in die ostdeutschen Bundesländer“, heißt es in der im August 2020 von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Broschüre „Ausländer in Ostdeutschland“ von Patrice G. Poutrus, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik der Universität Erfurt. Die Migranten, von denen nicht wenige bereits längere Zeit in Deutschland lebten, seien durch die Residenzpflicht dazu gezwungen worden, „an ihren zugewiesenen Unterkunftsorten zu verbleiben, es sei denn, sie waren entweder nicht mehr auf öffentliche Unterstützungsleistungen zum Lebensunterhalt angewiesen oder ihr Asylverfahren endete mit der Anerkennung als politisch Verfolgter gemäß Asylgesetzgebung“, schreibt Poutrus. In der Zeit der Transformation der planwirtschaftlichen Strukturen in eine marktkonforme Wirtschaftsregion, die durch eine vor allem im Vergleich mit dem Westen sehr hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnet war, sei für alle Migranten die Aufnahme einer gewerblichen Arbeit äußerst schwer zu erreichen gewesen.

Viele Asylbewerber ohne Aufenthaltstitel im Osten

Die einzigen die es schafften, waren die nicht zurückgeschickten ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter, deren Status bis 1997 ungeklärt war, die aber die Zeit nutzten, um deutschlandweit Netzwerke aufzubauen und ökonomische Nischen zu besetzen. Sie bildeten mit 15.000 bis 20.000 Personen die größte Gruppe ausländischer Wohnbevölkerung und ließen sich überwiegend im Raum Berlin-Brandenburg nieder. Eine Besonderheit dabei ist, daß die meisten von ihnen aus dem kommunistischen Nordvietnam stammten, während ihre in Westdeutschland heimisch gewordenen Landsleute meistens vor dem Kommunismus geflohene Südvietnamesen waren. 

Die meisten Ausländer in den neuen Ländern waren Anfang der 1990er Jahre aber aus dem Westen geschickte Asylbewerber, die über keinen dauerhaften oder über nichtgesicherte Aufenthaltstitel verfügten. Ihr Anteil lag mit vierzig Prozent zwei- bis dreimal höher als im bundesdeutschen Durchschnitt. Und das bei einem Ausländeranteil, der im Osten bei zwei Prozent, auf Deutschland hochgerechnet aber bei neun Prozent lag. Letztlich führte das dazu, daß „alle Zuwanderer als Kostgänger bzw. fremd oktroyierte Belastung der Aufnahmegesellschaft in Ostdeutschland wahrgenommen wurden“, wie Poutrus schreibt: „Auf diese Weise konnte in der ostdeutschen Gesellschaft eine Position immer wieder gestützt und gefestigt werden, die eine ethnisch homogene Gesellschaft als Idealbild von guter Ordnung präferiert.“

Gleichzeitig wird bis heute von linken Kreisen unterstellt, daß beispielsweise die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen bewußt inszeniert wurden, um eine Grundgesetzänderung durchzusetzen: Am 6. Dezember 1992 wurde der Asylkompromiß beschlossen, nach dem die Möglichkeiten eingeschränkt wurden, sich auf das Grundrecht auf Asyl zu berufen. Die Folge war, daß die Zahl der Asylbewerber kontinuierlich sank, bis diese neue Wege fanden, auch dieses Gesetz zu unterlaufen.