© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/20 / 27. November 2020

Grüne Illusionen
Berlin soll die globale Hauptstadt der tierfreien Forschung werden / Ohne Tests keine neuen Medikamente
Jörg Schierholz

Die private Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (JHU/Maryland) hat bislang 39 Nobelpreisträger hervorgebracht, und seit Ausbruch der Corona-Pandemie liefert das dortige „Covid-19 Dashboard“ tagesaktuelle Falldaten aus aller Welt. In der 144jährigen JHU-Geschichte gibt es aber auch dunkle Kapitel: 2011 bestätigte die Bioethik-Kommission von Barack Obama (Executive Order 13521), daß bei der „Public Health Service Syphilis Study at Tuskegee“ zur Penizillin-Wirksamkeit jahrzehntelang nicht nur schwarze US-Bürger, sondern zwischen 1946 und 1948 auch Soldaten, psychisch Kranke, Prostituierte und Häftlinge in Guatemala mit Syphilis, Gonorrhöe oder Schanker infiziert wurden.

Von den 1.308 mittelamerikanischen Testpersonen sollen 83 an den Folgen der US-Menschenversuche verstorben sein. Die 2015 eingereichte und 2019 zugelassene Milliarden-Klage gegen die beteiligte JHU sowie die Rockefeller-Stiftung und den Konzern Bristol-Myers Squibb ist noch nicht endgültig entschieden. In der JHU herrscht aber ein anderer Geist: Hier leitet inzwischen der deutsche Pharmakologe Thomas Hartung das 1981 gegründete Zentrum für Alternativen zu Tierversuchen (CAAT).

„Verzögerung beantragter Forschungsvorhaben“

BASF, Boehringer Ingelheim, Colgate-Palmolive oder Hoffmann-La Roche zählen zu den spendablen CAAT-Finanziers. 2010 wurde der Ableger CAAT-EU an der Universität Konstanz gegründet. 2017 übernahm die deutsche Tierschutzexpertin Kathrin Herrmann die Leitung des Refinement Program am CAAT in Baltimore. In diesem Monat ernannte Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) die Fachtierärztin für Tierschutzethik als Nachfolgerin von Diana Plange, die von 2005 bis 2017 im Veterinäramt in Spandau tätig war, zur neuen Berliner Tierschutzbeauftragten.

Was nach internationaler Expertise und einem Routinevorgang klingt, löste jedoch heftige Reaktionen aus: Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Charité-Dekan Axel Pries, Thomas Sommer vom Vorstand des Max-Delbrück-Centrums für molekulare Medizin (MDC) und Günter Ziegler, Präsident der Freien Universität (FU), werfen dem rot-rot-grünen Senat vor, die Berliner Wissenschaft zu blockieren und mitten in der Corona-Pandemie zur „erheblichen Verzögerung beantragter Forschungsvorhaben“ beizutragen.

Denn Behrendt und Herrmann wollen künftig „innovative tierfreie Forschungsmethoden entwickeln und nutzen“ und Berlin zur „Hauptstadt der tierfreien Forschungsmethoden“ machen. Gesetzlich vorgeschrieben ist, daß die Tierversuchskommission (aus einem Ethiker, zwei Vertretern von Tierschutzverbänden und vier Forschern) vor entsprechenden Versuchen angehört werden muß. Nun soll es sogar zwei Kommissionen geben – aus je einem Ethiker, einem Biostatistiker, zwei Wissenschaftlern und vier Tierschützern. Dies hat zu aufgeschobenen Anträgen geführt, da die Kommission ihre regulären Sitzungen seit Anfang September ausgesetzt habe.

„Sollte beabsichtigt sein, Tierversuche im Land Berlin zu unterbinden, wird dies zur Folge haben, daß Studien für neue Medikamente, wie zum Beispiel Therapien zur Behandlung von Covid-betroffenen Patienten, mit sofortiger Wirkung gestoppt werden müßten“, warnen auch Stefan Oelrich, Pharma-Vorstand von Bayer, jenem Konzern, der das CAAT in Baltimore mitfinanziert, sowie Peter Albiez (Pfizer), Hans Lindner (Nuvisan) und Fabrizio Guidi (Sanofi). Eine „Verlagerung der entsprechenden Infrastruktur aus Berlin weg“ könnte die Folge sein. Allerdings betreibt Pfizer in Deutschland hauptsächlich Marketing und Vertrieb für die in den USA entwickelten Arzneimittel.

Langwierige Prüfung von Tierversuchsanträgen

Kathrin Herrmann ist bei Berliner Pharmaforschern zudem keine Unbekannte, die sich nur medienwirksam auf die „Zusammenhänge zwischen Tierschutz, Ernährung, Pandemien und Klimawandel“ beschränkt. Sie war von 2007 bis 2017 beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) als wissenschaftliche Mitarbeiterin für die Prüfung von Tierversuchsanträgen zuständig. Tierversuche auf das absolut notwendige Maß zu reduzieren ist sicher ein vernünftiges Anliegen. In der EU, Großbritannien, Norwegen, Island, Indien, Taiwan, Neuseeland sowie Kolumbien und Guatemala sind Tierversuche in der Kosmetikbranche verboten.

Der Großteil der jährlich über 2,8 Millionen Tierversuche in Deutschland findet in der Grundlagenforschung vorwiegend an Mäusen und Ratten statt. Versuche an Menschenaffen sind EU-weit verboten. Die Nutzung anderer Primaten wurde in den vergangen Jahren deutlich reduziert. Und gemäß einer EU-Richtlinie von 2012 soll die Zahl der Tierversuche insgesamt verringert, verbessert und durch andere Möglichkeiten ersetzt werden. Industrie und die Grundlagenforschung haben auch deshalb ein großes Interesse, Alternativen zu teuren Tierversuchen zu entwickeln.

Nicht immer läßt sich ein Organismus durch eine Zellkultur ersetzen. Tierversuche, sagt Medizinprofessorin Brigitte Vollmar (Uni Rostock), seien „für die biomedizinische Forschung unverzichtbar“. Ohne solche Arbeit an den Lebensgrundlagen werde es „unweigerlich zu einer inadäquaten Versorgung von Patienten kommen“ (JF 24/19). Testalternativen müssen aufwendig zugelassen werden. Neue medizinische Wirkstoffe werden zuerst im Reagenzglas oder in Zellkulturen getestet. Erst dann wird über Tierversuche entschieden.

Erst wenn im Tierversuch die Wirksamkeits- und Arzneimittelsicherheitssignale positiv sind, kann in drei klinischen Phasen ein Wirkstoff – etwa gegen Covid-19 – an Menschen getestet werden (JF 48/20). Die Contergan-Katastrophe vor 60 Jahren hätte verhindert werden können, wenn man damals in Aachen während der präklinischen Phase die heute vorgeschriebenen Sicherheitsuntersuchungen an unterschiedlichen Tierspezies vorgenommen hätte. Aus dem Thalidomid-GAU selbst entstanden die globalen regulatorischen Vorgaben für Tierversuche, um Arzneimittel möglichst sicher zu machen (JF 7/19).

Viele Zulassungstest für Chemikalien wurden in den letzten Jahren angepaßt. Hatte man früher eine mögliche augenreizende Wirkung an Kaninchen getestet, wird dies heute an der Hornhaut von Rinderaugen aus Schlachtabfällen oder an Hornhautzellen im Labor gemacht. Medikamente werden zudem in erheblichem Umfang an Zellinien getestet. Würde in der EU komplett auf Tierversuche verzichtet, ginge die Arzneimittelentwicklung einfach dahin, wo mehr Freiraum herrscht – wie bei der Stammzellforschung und Genetik. In China spielt nicht nur das Tierwohl eine untergeordnete Rolle. Und mit grünen Verhinderungsstrategien wird Berlin sicher nicht zur globalen Hauptstadt tierfreier Forschungsmethoden.

„Ethically Impossible: STD Research in Guatemala from 1946 to 1948“: 

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