© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/20 / 27. November 2020

Österreich war schneller als Preußen
„Sittliche Bedenken“: Die Idee der Postkarte sorgte vor 155 Jahren für einen kleinen Skandal
Paul Leonhard

Es war eine Erfindung für Schreibfaule. Denn nur 20 Worte sollten zugelassen sein. Und in Preußen war vor 155 Jahren nur die Idee schon ein Skandal. „Sittliche Bedenken“ überkamen Generalpostdirektor Karl Ludwig Richard von Philipsborn, als ihm der Vorschlag unterbreitet wurde, eine Postkarte einzuführen, auf der die jeweilige Korrespondenz offen zu lesen wäre. Dazu kam das unerhörte Verhalten des Geheimen Postrates Heinrich von Stephan, der auf der 5. Konferenz des Postvereins in Karlsruhe am 30. November 1865 die Einführung eines offenen „Postblattes“ durchsetzen wollte. Seine Begründung: der Brief gewähre nicht die genügende Einfachheit und Kürze, sei überdies zu teuer.

Philipsborn war da anderer Meinung. Vor allem aber befürchtete er Einkommensverluste für die staatliche Post. Daher untersagte er Stephan, seinen Vorschlag auf der Konferenz einzubringen, worauf dieser außerhalb der Sitzungen seine Gedenkschrift unter den Teilnehmern verteilte.

Für kurze Zeit setzte sich Philipsborn durch und verpaßte damit seine Chance, wie später Stephan auf einer Briefmarke verewigt zu werden. Dann übernahmen auch noch die gerade im deutsch-deutschen Krieg von den Preußen besiegten Österreicher die Idee. General-Post- und Telegraphen-Direktor Dr. Vincenz Freiherr Maly von Vevanovic setzte für die Habsburger Monarchie die Einführung der Postkarte durch. Am 1. Oktober 1869 erschien die erste Correspondenzkarte mit eingedrucktem Postwertzeichen und verkaufte sich noch im ersten Monat 1,4 Millionen Mal.

Handschriftliche Grüße aus dem Lockdown

In den zersplitterten deutschen Landen ist die Situation komplizierter, selbst als Stephan im April 1870 Generalpostdirektor des Norddeutschen Bundes wird und der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck, der gleichzeitig Kanzler des Norddeutschen Bundes ist, die mit 1. Juli 1870 in Kraft tretende „Verordnung betr: die Einführung der Correspondenzkarte“ unterschreibt. Es folgen Bayern, Württemberg, Baden und Luxemburg und schließlich in den Folgejahren die halbe und dann auch die übrige Welt. Der Name Correspondenzkarte hält sich nur kurze Zeit, letztlich setzt sich die Bezeichnung Postkarte durch.

Die Besonderheit der damaligen Postkarten ist, daß sie auf der Vorderseite lediglich die Anschrift und die Briefmarke enthalten durften. „Ce coté est exclusivement réservé à l’adresse“, steht auf einer „Briefkaart“ von 1904, die aus den Niederlanden an das Hotel Mandelbaum in Schaffhausen adressiert ist. Auf der Rückseite marschiert ein holländischer Bub in Holzschuhen lässig an geduckten, rotgedeckten Häuschen vorbei. Dazu hat der Absender einen Satz mit Bleistift notiert. Mehr Platz gab’s nicht.

Ähnlich gestaltet ist ein „Gruß aus München“ aus dem gleichen Jahr: vorne die Adresse und eine bayerische Briefmarke, hinten die freche Darstellung eines Münchner Kindls, das als Wachposten ein Gewehr präsentiert, auf dessen Lauf eine Rübe steckt und neben dem ein großer Bierkrug steht.

Zwei Jahre später zeichnen sich Änderungen ab. Die Neujahrskarte für 1906 enthält auf der Vorderseite bereits eine Trennlinie. Ein Drittel der Fläche darf seit 1905 nach Reichspostgesetz mit Grüßen beschrieben werden, und der Schreiber nutzt diese auch in winziger, aber gestochen scharf geschriebenen Zeilen. Damals wurde in allen Industrieländern die Post in den Städten mindestens dreimal zugestellt, in Großstädten sogar häufiger.

Auch wenn die goldenen Zeiten der Postkarte aus Sicht der Sammler (Philokartie) die Jahre zwischen 1897 und 1918 sind – 1903 wurden in Deutschland rund 1,2 Milliarden Postkarten befördert – werden noch immer fleißig Karten verschickt. 2019 hat allein die Deutsche Post rund 147 Millionen Postkarten befördert – die um 1885 erstmals gedruckten Ansichtskarten zählen dazu. 

Handschriftliche Grüße gelten gerade auch jetzt in der Corona-Krise als persönlicher als jede Mail oder SMS. In diesem Jahr dürften daher besonders viele Social-Distancing-Notizen aus dem eigenen Land in den Briefkästen landen.