© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

Zwei Ideen fusionieren
Der neue Milliardärssozialismus: Wie sieht die Gesellschaft der Zukunft aus?
David Engels

Im August 2020 schrieb der katholische Publizist Rod Dreher im American Conservative: „Viele Konservative arbeiten immer noch in einem stark veralteten Denkmuster, das Big Business für grundsätzlich konservativ hält. Die Idee, eine randianische, ist, daß die Wirtschaft der Antagonist der Regierung ist. Und so haben sich die Konservativen lange Zeit natürlicherweise auf die Seite der Wirtschaft gestellt. Aber wissen Sie was? Das Big Business steht jetzt auf der anderen Seite. Es ist vermutlich eine größere Bedrohung für konservative Werte als der Staat.“

Und in der Tat: Gerade jene Konzerne, die am ehesten das liberale Ideal des „Selfmademan“ bedienen, wie etwa Google, Facebook, Twitter, Microsoft, Amazon oder selbst Ikea, treten klar für ein kulturell wie politisch links verankertes Weltbild ein. Sie sind gegenwärtig die wichtigsten Kräfte hinter dem pseudo-sozialistischen „Great Reset“, also der schon seit längerem angestrebten, nun mit Hilfe der Corona-Krise beschleunigten und mit schönen Worten wie Klimaschutz, Toleranz, Multikulturalismus, Selbstentfaltung und Gleichberechtigung bemäntelten Umgestaltung unserer Gesellschaft.

Ich schreibe hier ganz bewußt „pseudosozialistisch“, da mittlerweile Liberalismus und Sozialismus in ihrer real existierenden Form nicht mehr als fundamentale Gegensätze zu denken sind, sondern vielmehr als konvergierende Kräfte, die zwar von unterschiedlichen Ausgangspunkten argumentieren, letztlich aber aufgrund ihres materialistischen Menschenbilds derselben ideologischen Schule zuzurechnen sind.

Das wird gerade heute überdeutlich, wo extremer Individualismus und extremer Kollektivismus ebenso ineinanderfließen wie linksgrüne Regulierungswut und großkapitalistische Lobbyarbeit. Bereits Marx sagte nicht zu Unrecht voraus, daß der Kapitalismus in seiner Reinform zu Monopol und autoritären Strukturen tendieren müsse; er irrte nur, als er im Sozialismus die Überwindung dieses Zustands sah: Faktisch operieren beide Kräfte mittlerweile komplementär, nicht antagonistisch.

Hieraus resultiert eine neue Staatsform, die man mit Oswald Spengler als „Milliardärssozialismus“ bezeichnen könnte, und die vor allem auf der Ausschaltung des Mittelstands beruht, des klassischen Trägers bürgerlicher und demokratischer Ideale.

Übrig bleibt nur noch eine über alle Vorstellungskraft hinweg reiche „liberale“ Elite, welche durch ihre Finanzmittel wie auch ihre Systemrelevanz Regierungen, Deep State und Medien kontrolliert, und eine verarmte und entrechtete Masse, welche „sozialistisch“ durch Brot und Spiele bei Laune gehalten und durch politische Indoktrination, ethnisch-kulturelle Zersplitterung und nicht zuletzt Angst vor Terrorismus oder Pandemien um Solidaritätsgefühl und Widerstandskraft gebracht wird.

Nun soll keineswegs abgestritten werden, daß im linken wie im liberalen Lager zumindest einige Akteure mit Grauen sehen, wohin ihre eigene Ideologie ultimativ führt, und dementsprechend zu früheren Aggregatzuständen wie sozialer Marktwirtschaft und klassischer Sozialdemokratie „zurückzukehren“ suchen.

Dies ändert aber nichts daran, daß die überwältigende Mehrheit der Menschen beider Lager den „Great Reset“ als Utopie mißversteht und sich daher einträchtig und enthusiastisch ganz dem Kampf gegen konservative Gesellschafts- und Denkstrukturen als der angeblich „größten Gefahr“ für den Westen verschreibt und nicht einsieht, daß sie hierdurch die letzten Dämme untergräbt, die das Chaos aufhalten.

Denn der Great Reset wird kaum friedlich verlaufen. Faktisch bedeutet er zwar nicht nur die Durchsetzung planwirtschaftlicher Lebensrealität für die überwältigende Masse der Bürger auf der einen Seite und die Festigung einer bisher fast unvorstellbaren Machtfülle der Elite auf der anderen, sondern auch das eigentliche Ende von Fortschritt und Kapitalismus, da Informatisierung, Robotisierung, KI und Transhumanismus die Massen nur noch zu unwesentlichen Handlangern eines selbsterhaltenden, nach Aussterben des Mittelstands auf Stagnation statt Expansion ausgelegten Kreislaufs zu machen droht.

Aber es wird kaum bei Stagnation bleiben, solange es zwischen den Akteuren des neuen Systems Konkurrenz gibt. Und diese besteht zuhauf: nicht nur zwischen den großen Machtblöcken wie etwa China, den USA, Europa, Rußland oder auch Indien oder Brasilien, sondern auch zwischen den verschiedenen wirtschaftlichen Konkurrenten und den von diesen unterhaltenen Demagogen und Regierungen.

Freilich – die anstehenden Konflikte werden, wie in der späten römischen Republik, zunehmend nicht um ideologischer Ziele, sondern rein machtpolitischer Fragen willen ausgefochten, doch mögen gerade hier trotz allem die Wandelbarkeit der öffentlichen Meinung, die Grenzen der Leidensfähigkeit der Bevölkerung, der Hunger nach Transzendenz und schließlich die ultimative Selbstzerstörung einer jeden „Kultur des Todes“ unerwartete Faktoren ins Spiel bringen.

Auf jeden Fall müssen wir uns damit abfinden, daß die alte Welt unwiederbringlich verloren ist. Das Rad der Geschichte dürfte bald eher an seinen Ausgangspunkt vorrücken als um wenige Jahre zurückgedreht werden. Wird es auch im Abendland, analog zur augusteischen Reform in Rom, welche die caesaristische Revolution mythisch-archaisch zu legitimieren suchte, auf eine Art „karolingische“ Wende als einzige Möglichkeit hinauslaufen, den Milliardärssozialismus in seine Schranken zu verweisen?






Prof. Dr. David Engels ist Professor für Römische Geschichte in Brüssel und forscht am Posener West-Institut (Instytut Zachodni).