© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

Allerlei Klartext in Kalkar
AfD: Mit seiner Gardinenpredigt wider die „Politkasperle“ bringt Jörg Meuthen den Parteitag in Wallung / Sozialprogramm beschlossen
Christian Vollradt

Vor der Halle wenig Demo, in der Halle viel Abstand. Das waren die augenfälligsten Unterschiede beim Bundesparteitag der AfD am vergangenen Wochenende im Vergleich zu vergleichbaren Veranstaltungen in den Vorjahren. Der Tagungsort, das „Kernwasser-Wunderland“ von Kalkar, also der nie ans Netz gegangene „Schnelle Brüter“, ist so abgelegen, daß die Mobilisierung der sonst stets anreisenden Gegendemonstranten diesmal schleppend verlief. Vom Protest draußen bekam man drinnen annähernd nichts mit. 

In der Messehalle war alles akribisch den Pandemie-Standards unterworfen: Jeder Delegierte bekam einen Einzelplatz, es herrschte Maskenpflicht, die Laufwege waren vorgegeben – und alles kontrolliert von den wachsamen Mitarbeitern des Ordnungsamts. Die hatten offensichtlich an der Disziplin der Teilnehmer kaum etwas auszusetzen. Bewußte Regelverstöße, wie von manchem in der Partei vorab befürchtet? Fehlanzeige. Kommt es demnächst nicht doch zu einem rückverfolgbaren Massenausbruch, hat die AfD den Beweis erbracht: Präsenzparteitage in Corona-Zeiten sind möglich.  

„Keine Partei von Schneeflöckchen“ 

Hoch her dagegen ging es während und auch noch einen Tag später wegen der Rede von Parteichef Jörg Meuthen. Ausführlich ging er auf die inneren Spannungen in der AfD ein und rief seinen Parteifreunden zu: „Was wir mehr als alles andere brauchen, ist innerparteiliche Disziplin. Dazu gehört untadeliges Verhalten aller Funktionäre und auch einfachen Mitglieder, vom Parlament bis zum Straßenstand.“ Vehement kritisierte er jene, die „gerne weiter Revolution oder Politkasperle spielen“. Wer das wolle, „kann und sollte das woanders tun, aber nicht in der AfD“. Meuthen spielte damit unter anderm auf die Vorfälle bei den Protesten gegen das Infektionsschutzgesetz an. „Lassen wir lieber die im Regen stehen, die nur allzu gerne rumkrakeelen und rumprollen, oder auch andere dazu einladen wie vergangene Woche im Bundestag, weil sie sich in der Rolle des Provokateurs gefallen wie pubertierende Schuljungen, um vor allem der eigenen überschaubaren Blase zeigen zu wollen, was für tolle Kerle sie doch sind. Verweigern wir diesen Leuten die heuchlerisch eingeforderte Geschlossenheit!“ Die AfD benötige nicht nur „Gemeinsamkeit an inhaltlichen Positionen, sondern auch an sozialen Verhaltensweisen und gemeinsamem oder jedenfalls kompatiblem Sprachgebrauch.

Meuthen ging dabei kaum verhohlen auch den Fraktionschef der Bundestagsfraktion, Alexander Gauland, an: „Ist es wirklich klug, im Parlament von einer ‘Corona-Diktatur’ zu sprechen? Wir leben in keiner Diktatur, sonst könnten wir diesen Parteitag heute wohl auch kaum abhalten. Und die Behauptung, es sei anders, stellt im Grunde die Systemfrage und bringt uns ohne jede Not in ein Fahrwasser, das uns massiv existentiell gefährdet.“ Die AfD werde nicht mehr Erfolge erzielen, indem sie „immer aggressiver, immer derber, immer enthemmter auftreten“, betonte der EU-Abgeordnete. „Im Gegenteil, so verlieren wir die vielen Menschen, die uns auf der Suche nach einer vernünftigen Alternative zum ganzen politischen Irrsinn der Merkelschen Politik zu gerne ihr Vertrauen schenken würden, das genau deswegen aber nicht können.“

Der Vorsitzende machte die seiner Meinung nach drohende Gefahr klar: „Entweder wir kriegen hier die Kurve, und zwar sehr entschlossen und sehr bald, oder wir werden als Partei in keineswegs ferner Zukunft ein grandioses Scheitern erleben. Ein Scheitern, auf das unsere Gegner sehnlichst warten.“

Die Reaktionen im Plenum waren – wie zu erwarten – gespalten. Es gab sowohl Applaus als auch Unmutsäußerungen, Buh-Rufe. Einige Delegierte hielten während der Rede die roten „Nein“-Abstimmungskarten in die Höhe, andere riefen „Aufhören!“ Aus den Landesverbänden Brandenburg, Thüringen und Sachsen-Anhalt kam besonders viel Protest, der Applaus überwog in den Reihen von Nordrhein-Westfalen, Hessen und Berlin. 

Auf Initiative des Landesvorstands Brandenburg wurde die Rede am Folgetag intensiv debattiert. „Wir brauchen eine Führung, die mutig und die freundlich ist“, beides sei bei dem Parteichef nicht zu erkennen, betonte die Potsdamer Landtagsabgeordnete Birgit Bessin. Meuthen habe die Bühne stattdessen „zur Abrechnung“ mißbraucht. Schweren Schaden habe er der Partei zugefügt, so AfD-Vizechef Stephan Brandner, der forderte, „Jörg, komm in den Schoß der Familie zurück!“ Der Höcke-Verehrer Thorsten Weiß, Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus, wetterte, Meuthen wolle „eine andere Partei“ – und der Thüringer Bundestagsabgeordnete Jürgen Pohl ereiferte sich: „Herr Professor Meuthen, Ihre Zeit in der AfD ist vorbei!“

Doch dessen Fürsprecher engagierten sich nicht minder. Meuthen habe Führungsstärke bewiesen, wie sie von einem Vorsitzenden zu erwarten sei, betonten die Vorsitzenden der Landesverbände Nordrhein-Westfalen und Berlin, Rüdiger Lucassen und Nicolaus Fest. Bundesvorstandsmitglied Joachim Paul erwartete von den Mitgliedern einer konservativen Partei, auf Kritik nicht „wie Schneeflöckchen“ zu reagieren. 

Eine Delegierte hielt denjenigen Parteifreunden, die jede Erwähnung des Verfassungsschutzes mit höhnischen Zwischenrufen quittierten, entgegen, die AfD sei doch gerade die Partei für Polizisten und Soldaten. Was man denn, bitte schön, erreiche, wenn dann ein Beamter seiner Familie erläutern müsse, er werde suspendiert und bringe künftig ein geringeres Gehalt nach Hause, weil er sich für diese Partei engagiere?  

Meuthen baut Mehrheit im Vorstand aus 

Dabei gab es jenseits der Aufwallungen an den Saalmikrofonen auch nachdenklichere Töne, sowohl auf der einen wie auf der anderen Seite. Selbst einigen Unterstützern Meuthens gingen seine Attacken zu weit. „Unnötig“ nannten Leute aus seinem Lager die unverhohlene Kritik an Fraktionschef Alexander Gauland. Ohne die wäre Meuthens Ruf nach mehr Disziplin glaubhafter gewesen, sagen sie. Andere meinten, der Vorsitzende hätte seine Mahnungen besser mit einer umarmenden Geste verknüpfen sollen. Umgekehrt äußerte sogar ein Repräsentant des „Flügels“, Meuthen habe in den wesentlichen Punkten seiner Kritik recht – nur habe er den falschen Zeitpunkt dafür gewählt.

Daß Meuthen mehr oder weniger direkt Bundestagsfraktionschef Gauland angegangen ist, mag persönlicher Verletztheit geschuldet sein. Der Vorsitzende verübelt dem Ehrenvorsitzenden, dessen Parteilichkeit im „Fall Kalbitz“. Vor allem aber griff Meuthen mit seiner Kritik am Begriff „Corona-Diktatur“ eine Warnung juristischer Fachleute auf. Bei einer Klausur von Bundesvorstand mit den AfD-„Landesfürsten“ war den Teilnehmern von Expertenseite eingeschärft worden, diese Wortwahl sei nicht nur überzogen, sondern werde auch vom Verfassungsschutz als Anhaltspunkt dafür gewertet, der Benutzer wolle das demokratische System delegitimieren. Gauland selbst meinte gegenüber der JUNGEN FREIHEIT, er habe Meuthens Äußerung nicht als persönlichen Angriff verstanden. Er halte es indes für falsch, die Argumente des Verfassungsschutzes zu übernehmen. 

Die Wahlen am Samstag, mit denen die freigewordenen Posten im Bundesvorstand nachbesetzt wurden, waren ein erster meßbarer Hinweis auf die Mehrheitsverhältnisse beim Parteitag. Neuer Schatzmeister wurde der bisherige stellvertretende Schatzmeister, Carsten Hütter. Er setzte sich mit 50,9 Prozent gegen Emil Sänze durch, einen einstigen Widersacher Meuthens seinerzeit im Baden-Württembergischen Landtag, der auf 46,8 Prozent kam. Zum Nachfolger Hütters als stellvertretenden Schatzmeister wählten die Delegierten Christian Waldheim, der im zweiten Wahlgang mit 50,1 Prozent gegen den Bundestagsabgeordneten Harald Weyel (47,9 Prozent) gewann. Bei der Nachwahl eines Beisitzers anstelle von Andreas Kalbitz, dessen Parteimitgliedschaft annulliert worden war, setzte sich im zweiten Wahlgang die hessische Bundestagsabgeordnete und digitalpolitische Sprecherin Joana Cotar gegen den EU-Abgeordneten Maximilan Krah aus Sachsen durch. 

Mit den Wahlen setzten sich damit  die Unterstützer der Meuthen-Linie im Bundesvorstand – wenn auch knapp – durch. Seine Mehrheit gegenüber den internen Kritikern wie Co-Chef Tino Chrupalla, den Vizes Alice Weidel und Stephan Brandner sowie dem Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland konnte Meuthen dabei nicht nur sichern, sondern sogar ausbauen. „Wir haben verloren“, soll jemand aus dem Kreis der Meuthen-Widersacher anschließend resigniert festgestellt haben. 

Daß sie in ein derzeit nicht gerade harmonisch funktionierendes Gremium gewählt wurde, darüber sei sie sich im klaren, sagte die neue Vorstandsbeisitzerin Cotar am Rande des Parteiags der jungen freiheit. Sie wolle versuchen, integrativ zu wirken. Als Vorbild nannte sie Hessen, dort habe man es geschafft, Gräben zuzuschütten. Es habe durchaus Signalwirkung, daß eine Unterzeichnerin des gegen den damaligen Einfluß des „Flügels“ gerichteten „Appells der 100“ nun anstelle von Andreas Kalbitz Mitglied der Parteiführung ist.

Erkennbar fehlte dem offiziell aufgelösten, personell aber durchaus noch vorhandenen „Flügel“ durch den Ausschluß von Andreas Kalbitz der erfolgreiche Netzwerker und Strippenzieher. Er war es in der Vergangenheit stets, der Bündnisse schmiedete und auf die Wahl von Kandidaten einschwor. 

Höcke unterdessen blieb auffallend stumm, sprach ab und an mit Journalisten, meldete sich jedoch am Saalmikrofon nicht ein einziges Mal zu Wort. Regelrecht konsterniert hatte mancher aus dem „Flügel“ registriert, daß diesmal die andere Seite offensichtlich im Vorfeld eine deutlich bessere Vorabeit geleistet hatte als bei früheren Gelegenheiten. Andere meinten unter der Hand, man sei nicht mehr durchgedrungen zu jenen, die sich klar im Lager Meuthens und seiner Anhänger verorteten. Dort habe man sich abgeschottet – sogar gegen jene, die nie dem „Flügel“ angehörten, wohl aber diesem zugeordnet würden.

Die Lücke beim Thema  Rente endlich vom Tisch

Und sonst? Mit rund 89 Prozent stimmten die Delegierten für den sozialpolitischen Leitantrag, dem eigentlichen Thema und Anlaß des Parteitags. Zuvor wurden einige wenige Passagen geändert. Der Antrag galt schon seit seiner Annahme in der Programmkommission als mehrheitsfähiger Kompromiß zwischen Vertretern des marktwirtschaftlichen und des sozialstaatlichen Lagers in der AfD. Bei der Rente hat sich die Partei grundsätzlich für den Erhalt des umlagefinanzierten Systems ausgesprochen, zur Lösung des demographischen Problems sollen Eltern gegenüber Kinderlosen deutlich bessergestellt werden. 

In der Lesart des Thüringer Landesvorsitzenden Björn Höcke war das Abstimmungsergebnis eine Bestätigung des „Sozialpatriotismus“. Andere erkennen im verabschiedeten Programm eher die Handschrift des Kommissionsvorsitzenden Albrecht Glaser, der die Arbeit der verschiedenen Arbeitskreise koordiniert und das Ergebnis dem Parteitag ausführlichst präsentiert hatte. Der hohe Zustimmungswert, meinten Teilnehmer anschließend, spiegele auch den Wunsch wider, das Thema endlich vom Tisch zu haben. Der Antrag, in einem Pilotprojekt das sogenannte Staatsbürgergeld (JF 42/20) zu erproben, wurde auf Wunsch einer knappen Mehrheit von rund 52 Prozent nicht behandelt. Initiator René Springer nahm es gelassen. Er werde das Modell nun in der Partei weiter vorstellen und bewerben, kündigte er im Gespräch mit der jungen freiheit an. Wiedervorlage des Antrags dann zu gegebener Zeit.

Im „Kernwasser“ von Kalkar wurde nie ein Atom zur kommerziellen Energiegewinnung gespalten; und auch die AfD an diesem Parteitagswochenende nicht. Ihre Hülle ist noch ganz, selbst wenn es darunter noch so brodelt und gärt. Vom Abklingbecken ist der interne Streit noch weit entfernt.