© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

Niemand ist illegal, alle sind Deutsche
Grüne: Neues Programm mit erstaunlichen Forderungen
Ronald Berthold

Die deutsche Staatsbürgerschaft auch für „Flüchtlinge“, eine „vielfältige Einwanderungsgesellschaft“ als Staatsziel im Grundgesetz und Wahlrecht für alle Ausländer – das neue Grundsatzprogramm der Grünen fordert weitere große Schritte zum Umbau Deutschlands.

Da vieles dafür spricht, daß die Grünen eine dominierende Rolle in der kommenden Bundesregierung spielen werden, haben die neuen Leitsätze eine zentrale Bedeutung für die Zukunft des Landes. Zu den Umfragewerten, die sie konstant als zweitstärkste Kraft ausweisen, kommen die Beteuerungen der drei CDU-Kandidaten für den Vorsitz, mit der von Robert Habeck und Annalena Baerbock geführten Partei koalieren zu wollen. Auch CSU-Chef Markus Söder, ebenso als Kanzlerkandidat im Gespräch, sendet starke Annäherungssignale an die Oppositionspartei. Sollte es für eine Mehrheit mit SPD und Linken reichen, würden die Grünen sogar den Kanzler stellen.

Wahrscheinlich bilden die neuen Grundsätze der Partei daher eine wesentliche Grundlage für das Regierungsprogramm ab 2021. Da sich vor allem die Union bereits zahlreiche migrationspolitische grüne Forderungen zu eigen gemacht und umgesetzt hat, verwundert es nicht, daß der designierte Koalitionspartner die Schraube weiter anzieht.

Daß Deutschland eine „Einwanderungsgesellschaft“ sei, soll nun „als Staatsziel im Grundgesetz verankert“ werden. Mit den Abgeordneten der CDU/CSU wäre die dafür nötige Zweidrittelmehrheit im Bundestag perfekt. Die Zustimmung von SPD und Linken gilt ohnehin als sicher. Folge: Zuwanderung abzulehnen wäre künftig verfassungswidrig.

Außerdem fordert die Partei, in der „vielfältigen Einwanderungsgesellschaft“ Deutschland müßten „Teilhabe, Rechte, Zugehörigkeit und soziale Positionen stets neu ausgehandelt werden“. Erforderlich sei es darüber hinaus, eine „gleichberechtigte politische, soziale und kulturelle Teilhabe von Migrant*innen“ sicherzustellen. Dies hätte unter anderem Auswirkungen auf das Wahlrecht, das Ausländern nicht mehr vorenthalten werden könnte.

Allerdings würde dies weit weniger Menschen als derzeit betreffen, weil Einwanderer massenhaft deutsche Pässe erhielten. Die Grünen fordern „einen erleichterten Rechtsanspruch auf Einbürgerung“. Die Staatsbürgerschaft werden – so das neue Parteiprogramm – alle bekommen, die „in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt haben und Teil dieser Gesellschaft geworden sind“. 

Diejenigen, die dann den praktisch jedem zugänglichen deutschen Paß ablehnen, „müssen“ nach Vorstellungen der Grünen trotzdem wählen können: „Wer hier dauerhaft seinen Lebensmittelpunkt hat, muß die Möglichkeit haben, an Wahlen, Abstimmungen und allen anderen demokratischen Prozessen gleichberechtigt teilzunehmen.“ Künftig würde die Zusammensetzung des Bundestags und der Länderparlamente weltweit exklusiv nicht vom Volk, sondern von allen Einwohnern bestimmt. Das Grundgesetz erlaubt ein Ausländer-Wahlrecht bisher nicht. Die Grünen wollen mit der Änderung ein „Repräsentationsdefizit“ schließen.

Migrantenkinder, die hier geboren werden, sollen qua Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben. Es reicht, „wenn ein Elternteil rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat“. Unter „gewöhnlicher Aufenthalt“ fallen laut Ausländerrecht so gut wie alle in der Bundesrepublik lebenden Migranten – auch gerade erst eingewanderte, sogenannte „Flüchtlinge“. Derzeit wird jedes vierte Kind in Deutschland von einer ausländischen Mutter geboren. Diese Babys wären künftig automatisch deutsche Staatsbürger.

Bisher hat der Bundestag alle in einem von den Grünen vor zwei Jahren vorgelegten Entwurf für ein neues Einwanderungsgesetz gestellten Forderungen in die Tat umgesetzt – bis auf den automatischen Familiennachzug von Migranten. Daher sei, so das Grundsatzprogramm, Migration immer noch nicht „diskriminierungsfrei und fair“. Es müsse das „Privileg“ aller Menschen sein, nach Deutschland zu ziehen.

Daher seien Hindernisse der Einwanderung, wie zum Beispiel die Schließung der Balkan-Route, aufzuheben. Zudem sollen Verträge mit Ländern wie der Türkei oder Libyen, die die Migration laut Grünen „erschweren“, gekündigt werden: „Die Möglichkeit zu fliehen sowie in Deutschland und Europa Schutz zu suchen darf nicht durch Kooperationen mit Drittstaaten erschwert werden.“ Eine „illegale Einwanderung“ gäbe es dann nicht mehr. Jeder Zuwanderer hätte sofort einen legalen Aufenthaltstitel. Im Grundsatzprogramm heißt es: „Kein Mensch ist illegal.“ Die Einstufung demokratischer Länder als sichere Herkunftsstaaten solle deswegen ebenfalls fallen.

Abschiebungen möchten die Grünen so gut wie unmöglich machen. Die schon jetzt nur in äußerst seltenen Fällen angeordnete Abschiebehaft will die Partei abschaffen. Denn diese sei eine „Haft ohne Verbrechen“ und ein „massiver Eingriff in das verfassungsrechtlich garantierte Freiheitsrecht“.

Die ARD-„Tagesschau“ sieht die Grünen mit dem neuen Programm auf dem Weg „in die Mitte“. Bisher hat auch kein namhafter Politiker des potentiellen Koalitionspartners CDU/CSU die ausländerpolitischen Forderungen der Grünen kritisiert.