© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

Gut gemeint, schlecht gemacht
Finanzpolitik: Schattenseiten der Mehrwertsteuersenkung / Alternative „Corona-Konsumgutschein“
Dirk Meyer

Eigentlich war es eine gute Idee: substantiell, pauschal, diskriminierungsfrei, sofort wirksam und scheinbar einfach umzusetzen – die am 29. Juni von Bundestag und Bundesrat beschlossene Absenkung der Mehrwertsteuer (MwSt) von 19 auf 16 Prozent (Regelsatz) bzw. von sieben auf fünf Prozent (ermäßigter Steuersatz). Zur Wiederbelebung der Konjunktur nach dem Corona-Einbruch war der darbenden Wirtschaft jeder Euro recht.

Hinzu kommt die volkswirtschaftliche Weisheit, wenn der Staat einen Euro mehr ausgibt, kommt mehr als ein Euro dabei heraus. Denn dieser Euro dreht mehrere Runden. Bei einem Steuerverzicht („Kosten“) von etwa 20 Milliarden Euro und einem Multiplikator ähnlich der sogenannten Abwrackprämie und dem Kinderbonus 2009 von 1,3 bis 1,5 dürfte der Effekt auf das Bruttoinlandsprodukt bei 26 bis 30 Milliarden Euro liegen. Mit dazu trägt auch die Mobilisierung von Erspartem für größere Anschaffungen bei.

Ein Wermutstropfen ist das Abwarten bzw. des Vorholen des Konsums bei der auf ein halbes Jahr befristeten Vergünstigung. Die Autohäuser waren im Juni genauso leer wie sie es zu Beginn des neuen Jahres sein werden. Da untere Einkommen aufgrund ihrer hohen Konsumquote relativ besonders begünstigt werden, erscheint diese Maßnahme gegenüber einer vorgezogenen Soli-Abschaffung vielen als geeigneter. Allerdings wird bereits ein „Porsche-Effekt“ moniert, der die Vorteile größerer Anschaffungen vermögender Haushalte beschreibt.

Ein Wermutstropfen bleibt nach der Vergünstigung 

Im Fokus steht jedoch der Preissenkungseffekt. Bei einer vollständigen Durchleitung der Mehrwertsteuerabsenkung würden Lebensmittel um 1,9 Prozent, voll belastete Güter und Dienstleistungen um 2,5 Prozent günstiger. Laut einer Bundesbank-Studie wäre dann die Inflationsrate in Deutschland für Juli bis Dezember jeweils um 1,8 Prozent gefallen. Tatsächlich sank die Inflationsrate im Juli nur um 0,8 und im Oktober um 0,9 Prozent.

Allerdings verzerren externe Einflüsse wie die seit Juni erst gestiegenen, dann gefallenen Preise für Heizöl diese Rechnung. Insofern wurde der Steuervorteil nur zur Hälfte weitergegeben. Eine Untersuchung des Münchner Ifo-Instituts auf der Basis von 60.000 Rewe-Artikeln ergab eine Preissenkung von zwei Prozent – verglichen mit der österreichischen Rewe-Tochter Billa im gleichen Zeitraum, bei der keine Umsatzsteuersenkung vorlag.

Hobby- und Freizeitartikel konnten die Preise hingegen eher halten. Restaurants erhöhten teils sogar die Preise, um gestiegene Kosten oder Umsatzausfälle auszugleichen. Generell fiel bei Dienstleistungen die Preissenkung geringer aus. Allerdings ist auch ein nicht weitergereichter Steuerbonus nützlich, denn er stärkt die Erträge und damit das Eigenkapital der Betriebe in schwierigen Zeiten. Zum Problem wird die zeitweise Steuersenkung durch die Bürokratiekosten und Unsicherheiten, die sie bei den Firmen hervorruft. Die Kassensicherungsverordnung mit der Bon-Pflicht (JF 48/19) und zusätzlichen Maßnahmen gegen Steuerbetrug ist kaum bewältigt, da müssen die Preise der einzelnen Artikel am Regal oder auf Listen neu ausgewiesen werden – alternativ per Rechnungsrabatt an der Kasse, was jedoch als mangelnde Preistransparenz beim Kunden auf wenig Akzeptanz stößt.

Bürokratiekosten von 2,25 Milliarden Euro

In einem durchschnittlichen Supermarkt betrifft das rund 15.000, in größeren etwa 40.000 Preise. In jedem Fall ist die Software umzustellen. Ein Gutachten an der Universität Magdeburg im Auftrag der FDP auf der Basis von Experteninterviews und Angaben des Statistischen Bundesamtes schätzt die reinen Bürokratiekosten der Wirtschaft auf rund 2,25 Milliarden Euro – also entsprechend 11,2 Prozent des Steuerausfalls von 20 Milliarden Euro.

Hinzu kommen Risiken nachträglicher Betriebsprüfungen der Steuerbehörden, die etwaige Verstöße gegen die umfangreichen Vorschriften aufdecken könnten. So umfaßt die erst einen Tag vor Inkrafttreten der Ermäßigung am 1. Juli erfolgte Umsetzungsrichtlinie 53 spezielle Auslegungsvorgaben, ergänzt um 22 Anweisungen vom 4. November. Diesen folgten Umsetzungshilfen von Branchenvertretungen wie beispielsweise ein 23seitiges Merkblatt des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ).

Hohe Belastungen innerhalb der Finanzverwaltung sowie etwaige Bürokratiekosten bei Kunden hinsichtlich Unklarheiten und Fehlern in Rechnungen sind zudem vorprogrammiert. Dagegen schätzt das Statistische Bundesamt den Erfüllungsaufwand auf lediglich 238,7 Millionen Euro, was etwa 1,2 Prozent des Fördervolumens entspricht. Die Diskrepanz resultiert vornehmlich aus nach Angaben von Praktikern völlig unrealistischen Zeitansätzen.

Was wären wünschenswerte Korrekturen der Regelungen? Da die Bürokratiekosten vornehmlich bei Umstellung und Rückstellung der Mehrwertsteuerabsenkung anfallen, wäre eine Verlängerung über den 31. Dezember hinaus denkbar – auch vor dem Hintergrund des derzeitigen Lockdowns und des damit verbundenen zeitlich begrenzten Konjunktureinbruches. Außerdem würde eine großzügige Übergangsregel den Vorholeffekt und einen damit verbundenen Ausführungsdruck von Aufträgen mindern, beispielsweise des Handwerks.

So könnte für ein halbes Jahr des Übergangs das Datum der Auftragserteilung für den geminderten Steueransatz gelten. Zwar ist die Zeit für eine Alternative passé. Aber mit dem gleichen Steuerausfall hätte man allen Bürgern einen „Corona-Konsumgutschein“ mit Ablaufdatum 31. Dezember in Höhe von 250 Euro in die Hand geben können – direkt und völlig unbürokratisch. In Wien hat das geklappt: Im Juni erhielten alle dort gemeldeten 950.000 Haushalte einen Gutschein für die städtische Gastronomie per Post: 50 Euro für Familien bzw. 25 Euro für Einzelpersonen.

Der im Oktober von Gewerkschaftern vorgeschlagene „1.000-Euro-Österreich-Gutschein“ für Hotels, Restaurants und den regionalen Handel fand hingegen bei der Bundesregierung aus ÖVP und Grünen keine Fürsprecher. Dabei sind in der Sommersaison die Übernachtungen ausländischer Gäste um 43,2 Prozent auf 31,6 Millionen zurückgegangen. Und die hatten 2019 noch insgesamt 20,7 Milliarden Euro nach Österreich gebracht.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Bundesbank-Monatsbericht 11/20:  www.bundesbank.de





Ein deutsches Bürokratiemonster

Bezugszeitpunkt für die Mehrwertsteuer ist die Ausführung einer Leistung, nicht die Auftragserteilung oder Bezahlung. Ob Autokauf oder das neue Sofa: Entscheidend ist der Zeitpunkt der Lieferung. Bei Handwerkern oder Rechtsberatern sind Teilleistungen möglich, um die Steuervergünstigung bis zum 31. Dezember noch anzuwenden. Bei monatlichen Abos, Leasing, Stromabrechnung oder Telefon ergeben sich Zusatzkosten bei der Erfassung und Rechnungsstellung. Bei Wartungsverträgen, die jährlich im Voraus abgerechnet werden, gibt es generell keine Korrekturen. Die Versicherungssteuer (2019: 14,1 Milliarden Euro) blieb bei 19 Prozent. Die Jahres- und Saisonkarten stellen eine Vorauszahlung für eine einheitliche Leistung dar. Bei Zahlung zu Beginn des Leistungszeitraums entsteht die Mehrwertsteuer erst am Ende der Laufzeit nach Abschluß der Leistung. Wenn also der Zeitraum am 31. Dezember endet, wird nachträglich auf 16 Prozent korrigiert. Bei Anzahlungen für Leistungen, die erst ab dem 1. Januar erbracht werden, ist eine Berichtigung beim Vorsteuerabzug vorzunehmen, da dann wieder die alten Sätze gelten. Beim Umtausch eines Weihnachtsgeschenkes wird die Rückgabe mit 16 Prozent, der Neukauf mit 19 Prozent besteuert. (dmr)