© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

„Stirbt der Handel, sterben die Innenstädte“
Weihnachtsgeschäft: Die Corona-Beschränkungen sind ein milliardenschweres Konjunkturprogramm für Amazon, Otto, Zalando & Co.
Paul Leonhard

Auch wenn bei den Kunden keine so rechte Einkaufsstimmung aufkommen will, bleibt Peter Ahrens optimistisch: „Wir wollen uns  nicht irritieren lassen, sondern das Beste daraus machen.“ Immerhin wirke sich der „Lockdown light“ in Marburg nicht so dramatisch wie in Großstädten aus. Wie der Chef des hessischen Traditionskaufhauses Ahrens hoffen viele Geschäftsinhaber auf ihre Stammkundschaft, gerade in den entscheidenden Wochen vor Weihnachten.

Aber trotz liebevoll geschmückter Schaufenster und besinnlicher Melodien aus den Lautsprechern, Schlange stehen vor den Geschäften macht in Corona-Zeiten und mit Maske keinen Spaß. Und so stehen die Verlierer der  vom Merkel-Kabinett und den Landesregierungen angeordneten und bis voraussichtlich 20. Dezember verlängerten Pandemie-Einschränkungen fest: Es sind die Einzelhändler in den deutschen Innenstädten und die Kunden.

Offenbar haben immer weniger Menschen Lust auf einen reglementierten Einkaufsbummel. Viele folgen ihrer Intuition und dem Appell von Politik und Leitmedien, zu Hause zu bleiben. Laut einer Umfrage des Instituts für Handelsforschung (IFH) gab kürzlich mehr als die Hälfte der Verbraucher an, Innenstädte zur Weihnachtszeit meiden zu wollen – und das läßt nicht nur den Glühweinverkauf einbrechen.

Immer mehr nutzen nun gezwungenermaßen Online-Anbieter, der stationäre Handel schrumpft. Schon in den ersten drei Novemberwochen seien die Umsätze in den Geschäften um durchschnittlich 30 Prozent, bei Bekleidung sogar um 40 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurückgegangen.

Erschwerend kommt dazu, daß viele stationäre Händler bisher darauf verzichtet haben, ihr Sortiment auf Online-Verkaufsplattformen anzubieten. Der Mittelständler Ahrens ist da mit „A-Shop“ und eigener App eher eine Ausnahme. Nach Schätzungen des Einzelhandelsverbands sind etwa 250.000 Einzelhändler überhaupt nicht im Netz präsent, die Hälfte davon hat nicht einmal eine eigene Internetseite – sie überlassen den Umsatz Amazon, Otto, Zalando & Co.

Waren die Hygienekonzepte im Einzelhandel umsonst?

Beim Handelsverband Deutschland (HDE) prognostiziert man unverändert einen Umsatz von 104 Milliarden Euro für November und Dezember, aber mit klaren Verschiebungen in den Internet-Handel. Für diesen Bereich rechnet HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth mit einem Plus von zwei Milliarden und einen Umsatz von insgesamt 70 Milliarden Euro, was die „Existenznot bei Händlern in den Innenstädten verschärft“. Eine Klientel, deren Sorgen allenfalls AfD, FDP und Freie Wähler im Blick haben. Im Gegenteil: Klimabesorgte Politiker aller Couleur bemühen sich derzeit deutschlandweit in den Kommunen, mit Einfahr- und Parkverboten oder drastischen Gebühren­erhöhungen potentiellen Kunden den Einkauf in den Stadtzentren zusätzlich zu den Corona-Geboten zu verleiden.

Der stationäre Handel jenseits von Aldi, Edeka, Lidl & Co. könnte nach HDE-Berechnungen durch den verlängerten „Lockdown light“ nochmals zusätzlich rund sechs Milliarden Euro verlieren. Im Gesamtjahr läge das Umsatzminus dann bei diesen Innenstadthändlern bei 25 Milliarden Euro. Auch sehen sich Händler, Supermärkte, Einkaufszentren und Kaufhäuser durch die neu festgeschriebene Quadratmeter-Grenze benachteiligt.

Ab 800 Quadratmetern Verkaufsfläche gelten strengere Vorgaben bei der zulässigen Höchstzahl an Personen als unterhalb dieser Grenze. Eine ebenso unsinnige wie juristisch zweifelhafte Festlegung findet man beim HDE: „Die Hygienekonzepte im Einzelhandel haben sich sowohl in kleinen wie auch in den größeren Räumlichkeiten“, so Genth, der auch darauf hinweist, daß Warteschlangen vor Lebensmittelhändlern sowohl zu Hamsterkäufen führen könnten als auch neue Gelegenheiten für Ansteckungen bieten.

Um die Innenstadthändler vor einer drohenden Insolvenz zu bewahren, fordert der HDE dringend die zeitnahe Aufnahme des Handels in die Nothilfen der Bundesregierung. Die Überbrückungshilfen müßten angepaßt werden, damit der Einzelhandel eine Chance hat, diese in Anspruch zu nehmen, so Genth. Die staatlichen Novemberhilfen müßten auch für den Einzelhandel geöffnet werden. Zudem sollte die Bundesregierung die Kriterien bei den Überbrückungshilfen so anpassen, daß auch Händler mit ihren traditionell geringen Margen davon profitieren können. Bisher sind hier die Vorgaben für den notwendigen Umsatzverlust zu hoch angesetzt.

„Stirbt der Handel, sterben die Innenstädte“, weiß man auch beim merkelkritischen Wirtschaftsrat der CDU, der mit einer Anleitung „Hilfe zur Selbsthilfe“ die Politik animieren will. Zu den acht Punkten, die der 1963 gegründete Verein formuliert hat, gehören unter anderem die Ausweitung der sogenannten November-Hilfen auf die Unternehmen des stationären Handels, die Lockerung der Ladenöffnungszeiten in der Adventszeit und im Januar und der weitgehende Verzicht auf die Kassenbelegausgabepflicht bei Umsätzen des täglichen Bedarfs.

Daß die Bonpflicht (JF 48/19) von der CDU-geführten Bundesregierung eingeführt wurde, verschweigt das Papier. Wichtiger sei ohnehin, daß der stationäre Einzelhandel gegenüber der Konkurrenz des Onlinehandels handlungsfähig bleibt. Deshalb fordert der Wirtschaftsrat die zügige Schaffung fairer Wettbewerbsbedingungen zwischen stationärem Handel und Plattformökonomie sowie ein konsequentes Vorgehen gegen Steuervermeidung ausländischer Großunternehmen im Onlineversandhandel – was fast nach Sahra Wagenknecht klingt.

Für böses Blut sorgt auch, daß der Bund für die November- und Dezemberhilfen laut einer Berechnung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zehn Milliarden Euro mehr als eigentlich notwendig gezahlt hat. Besonders profitiert hätten davon Gastronomie und Betriebe aus dem Veranstaltungsgewerbe. Diese würden trotz Schließung mehr verdienen, als wenn sie geöffnet hätten, glauben die Kölner IW-Ökonomen.

Eine Unterstützung, die der deutsche Handel wirklich dringend nötig hätte. „Wenn die Politik jetzt nicht zeitnah mit Hilfsprogrammen eingreift, dann überschreiten wir zeitnah den Kippunkt, ab dem viele Händler nicht mehr zu retten sein werden“, warnt der HDE-Chef. Am Ende der Pandemie könnten dann bis zu 50.000 Geschäfte in den deutschen Innenstädten verschwunden sein. Insgesamt geht es hier um 3,1 Millionen Jobs.

Handelsverband Deutschland (HDE):  einzelhandel.de

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