© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

Marxistische Neulektüre für Halbstarke
Wirtschaftswissenschaft: Der französische Erfolgsautor Thomas Piketty legt eine Globalgeschichte der Ungleichheit vor / Scharfer Blick auf unbeachtete Regionen
Felix Dirsch

Der 49jährige Franzose Thomas Piketty hat es innerhalb weniger Jahre geschafft, zu einem führenden europäischen Wirtschaftswissenschaftler zu avancieren. Sein außerordentlich erfolgreiches Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ (JF 3/15) konstatiert sehr materialreich das für ihn beängstigende Maß an Ungleichheit, das seit dem Beginn des Siegeszugs des Neoliberalismus vor rund 40 Jahren zu beobachten ist. Karl Marx wird dabei, wieder einmal, zum hellsichtigen Prognostiker erklärt.

Echten linken Bewegungen – nicht jenen, die den prokapitalistischen Schwenk der vergangenen gut zwei Jahrzehnte mitgemacht haben – wird somit für ihr Wirken eine politische Handlungsanleitung mitgeliefert. Insofern ist die Relevanz dieser 816seitigen Studie, die die Verteilung von Einkommen und Vermögen anhand vieler Statistiken für Geschichte und Gegenwart erklärt, unstrittig. Immer weniger Menschen, so das Fazit, können einen immer größeren Reichtum für sich verbuchen.

Ideologische und politische Gesichtspunkte dominieren

Doch Ungleichheit läßt viele Facetten erkennen. Oft sind sie tief in historische Spuren eingegraben. Piketty holt deshalb in seinem neuesten Buch über „Kapital und Ideologie“ weit aus. Wieder scheint der emsige Datensammler, der mit einem interdisziplinären Stab an Fachleuten zusammenarbeitet, mit einer Fülle an Erkenntnissen den Rezipienten fast erschlagen zu wollen.

Die Inegalität betrachtet der Autor primär unter ideologischen und politischen Gesichtspunkten, erst sekundär unter wirtschaftlichen und ökonomischen. Damit steht er in einer langen analytischen Tradition, besonders in der von Marx. Wie viele linke Autoren vor ihm will Piketty die mentalen Spiegelungen ökonomischer Verschiedenheit hervorheben. Traditionelle Gesellschaften müssen ihre ungleichen Strukturen kaum rechtfertigen. Oft werden diese als gottgewollt zementiert. Die herkömmlichen trifunktionalen Gesellschaften weisen als obere Schichten zumeist den relativ homogenen Adel und die Geistlichkeit auf, darunter wird es schon heterogener: Zu den Untertanen gehören Bauern, Händler, Arbeiter und diverse andere Gruppen. Dieser soziale Aufbau zeigt sich natürlich nicht ohne regionale Spezifika.

Das Ende der alten ständischen Gesellschaft, das die Französische Revolution eingeläutet hat, bedeutet den Beginn einer noch stärkeren Fokussierung der Ungleichheit auf ökonomische Kriterien. Die „Eigentümergesellschaften“ ersetzten in vielfältiger Weise eine Ordnung, die fast ausschließlich auf Abstammung basierte. Die Experten lösten immer mehr die Priester ab, Banken und Millionäre die Adligen, aber an der Eigentumsverteilung änderte das nur wenig: Wieder befinden sich zwei Drittel der Vermögen in der Hand der geistigen und finanziellen Eliten.

Diese Entwicklung zeigt sich das gesamte 19. Jahrhundert hindurch. Vor allem die krassen Ungerechtigkeiten in Zeiten des Kolonialismus interessieren Piketty. Sein globaler Blick auf häufig unbeachtete Regionen, etwa den islamischen Kulturraum, ist scharf, auch wenn die Datenlage oft zu wünschen läßt. Er versucht die ökonomischen Konsequenzen des Kolonialismus freizulegen, die dazu führten, daß aus den unterworfenen Regionen bisweilen mehr Geld ausgesaugt wurde als das heimische Bruttosozialprodukt ausmachte. Es liegt auf der Hand, wer die Gewinner dieser Ausbeutungsmaßnahmen waren. Die angeblich goldenen Jahre vor 1914 sind besonders golden für das aufstrebende Bürgertum, das freilich bald tief fallen wird. Der Erste Weltkrieg wirkt in starkem Maße egalisierend. In den Jahren bald nach 1918 dringen in vielen Staaten Europas die Regierenden auf eine progressive Einkommenssteuer.

Außerordentlich ist die Situation in der Sowjetunion, wo tendenzielle Gleichheit auf niedrigem Niveau herrscht, was die Genese einer Nomenklatur nicht ausschließt. Den freien Staaten des Westens blieb in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kaum etwas anderes übrig, als den Sozialstaat weiter auszubauen. Sie befürchteten, die Arbeiter und untere Schichten an die sozialistische Systemkonkurrenz zu verlieren.

Eine klare Breitseite gegen die globale Deregulierung

Spätestens in den 1970er Jahren wurde der Rückstand der Ostblockstaaten jedoch immer offensichtlicher. Der vollständige Durchbruch gelang dem mittlerweile immer mehr auf Daten basierenden Kapitalismus aber erst nach der Implosion der Sowjetunion und deren Verbündeten. Deregulierung griff überall um sich. Die Schrift endet mit den politischen Auseinandersetzungen der unmittelbaren Gegenwart. Der populistische „Sozialnativismus“ spielt natürlich eine Rolle, gerade wegen seiner sozialen Ausrichtung. Am Ende skizziert der Autor Elemente eines partizipativen Sozialismus für das 21. Jahrhundert. Der Parceforceritt über verschiedene Epochen und Kulturen ist beendet.

Die klare Breitseite gegen die globale Deregulierung verhindert eine differenzierte Analyse. Als Meßlatte dienen vor allem die Superreichen, deren jeweiliger Anteil am Geldvermögen als entscheidend herausgearbeitet wird. So ist im Hintergrund das Motiv des Schürens von Neid unverkennbar. Man darf die Maßstäbe hinterfragen, die Piketty anlegt. Es ist sicherlich vereinfachend, wenn der Autor fast ausschließlich Einkommens- und Vermögensdifferenzen exponiert.

Es existieren darüber hinaus noch zahlreiche andere Unterschiede zwischen Menschen, etwa natürlicher Art. Kapitalistische Strukturen sind in erster Linie ambivalent: Die neoliberale Roßkur der letzten Jahrzehnte hat auch ihr Gutes gehabt: Viele der ärmsten Staaten konnten, vornehmlich aufgrund billigerer Kredite, den Lebensstandard ihrer Bevölkerung zumindest tendenziell erhöhen, was nicht heißen soll, daß nicht noch viel zu tun ist. Allen Einwänden zum Trotz ist eine Auseinandersetzung mit der buchhalterischen Akribie des so prominenten Wirtschaftswissenschaftlers lohnend.

Thomas Piketty: Kapital und Ideologie. Verlag C. H. Beck, München 2020, gebunden, 1.312 Seiten, 39,95 Euro

Piketty-Projekt World Inequality Database:

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