© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

„Einmal der Ort, immer der Ort!“
Literatur: Der Roman „Streulicht“ von Deniz Ohde ist Gejammer auf hohem Niveau
Dietmar Mehrens

Eigentlich könnte man es sich ganz leicht machen und Deniz Ohdes Debütroman kurz und bündig so zusammenfassen: „Streulicht“ handelt von einer klassischen Spätzünderin, die sich in der Zeit vor der späten Zündung einen massiven Minderwertigkeitskomplex antrainiert, und als ihr schließlich dämmert, daß es für diesen gar keinen Grund gibt, die Schuld für das anfängliche Scheitern bei anderen sucht: Lehrern, Eltern oder vielleicht doch am besten gleich der ganzen Gesellschaft? „Einer Gesellschaft, die zwar viel von Chancengleichheit redet, aber sie einem Mädchen aus der Arbeiterklasse nicht zubilligen will“, wie es bei der Vorstellung der Buchpreis-Kandidaten in Frankfurt hieß?

Zugegeben, ganz leicht hat es Frau A (mehr ist über den Namen der Ich-Erzählerin nicht herauszubekommen) als Kind nicht gehabt: Sie entstammt dem, was Soziologen Unterschicht nennen. Ihre Mutter ist eine türkische Immigrantin, ihr Vater ein deutscher Fabrikarbeiter, dessen Persönlichkeit die äußerst unglückliche Verbindung von Pedanterie und Messie-Mentalität prägt. Außerdem betrinkt er sich häufig und wirft dann mit Gegenständen um sich. A wächst unter diesen Umständen zu einem Mädchen heran, das sich vorzugsweise in die innere Burg zurückzieht, ein Verhalten, das sie in der Schule weit zurückwirft. Sie muß sie schließlich ohne Abschluß verlassen.

Das Glas ist nie halb voll, sondern immer halb leer

A’s Heimatort bildet die perfekte Prekariatskulisse: Frankfurt-Sindlingen, ein Industriemoloch, dessen häßliche Fabrikschornsteine und überirdische Röhrensysteme die Existenz des Mädchens überragen wie die Hälse der legendären siebenköpfigen Hydra. „Bei Dunkelheit glüht der Park wie eine riesige gestrandete Untertasse, orangeweißes Streulicht erfüllt den Nachthimmel, gespeist von den Neonröhren, die jedes Stockwerk der Türme ausleuchten“, schildert sie ihre Impressionen, ein schönes Beispiel zugleich für Ohdes Gabe, Ödes zu Leben zu erwecken.

Der Industriepark Höchst, in dessen Nähe die Autorin selbst aufwuchs, bietet dazu hinreichend Gelegenheit. Sprachlich-metaphorisch ist die gebürtige Frankfurterin jederzeit Herrin der Lage. Eine „unglaubliche Klarheit“, die die Welt „vollgerümpelter Mietwohnungen“ plastisch gemacht habe, lobte die Buchpreis-Jury. Doch der Roman wirkt oft so künstlich und kalt wie das Neonlicht des Industrieparks, dem er seinen Titel verdankt. Wie unter einer Laborlampe beleuchtet die Erzählerin sich selbst und ihre Interaktion mit den Figuren ihres Umfelds. Statt Emotionen: Reflexionen.

Dabei beschränkt Ohde das soziale Umfeld ihrer Heldin auf wenige prägende Personen: Vater, Mutter und Großvater, Lehrer und die beiden Freunde Sophia und Pikka, die sie von früher Kindheit an begleiten, fast immer im Duett auftauchen und schließlich – als hätte es immer schon festgestanden – heiraten.

In kreisförmigen Bewegungen, die immer wieder den Rekurs auf frühere Ereignisse zulassen, schreitet A’s Lebensgeschichte voran, und allmählich emanzipiert sie sich von ihrer sozialen Prägung, schafft es über den zweiten Bildungsweg sogar auf die Universität. Als würde sie sich selbst nicht trauen, ein selbstbewußtes, selbstbestimmtes Leben zu führen, spinnen Erinnerungen an die Kindheit die junge A wieder ein, je weiter sie sich biographisch von ihr entfernt. Fast scheint es, als wollten die Bindungen von früher sie für immer an Herkunft und Milieu ketten. Zum Sinnbild dessen wird ein Plakat am Eingang zum Friedhof, wo der Großvater und die früh verstorbene Mutter begraben sind. „Einmal der Ort, immer der Ort!“ steht darauf. 

Dann der Absturz: Die Selbstorganisation, die den Studenten zugemutet wird, überfordert die junge Frau mit der schweren Kindheit. Plötzlich fühlt sie sich verloren in einem „metaphysischen System“, das sich nur Nicht-Emporkömmlingen erschließt. Sie versäumt es, sich um Praktika zu bemühen, und verpatzt den Berufseinstieg. Hat ihre prekäre Herkunft sie eingeholt?

Irgendwann muß Deniz Ohde sich die Frage gestellt haben, was für eine Geschichte sie eigentlich erzählen will. Doch nicht etwa ein optimistisches Häßliches-Entlein-Märchen mit Happy-End, das das beliebte Klischee von der mangelnden Chancengleichheit für Kinder aus bildungsfernen Schichten Lügen straft? Während man anfangs der feinen Charakterzeichnung von Vater und Mutter sowie den Schilderungen vom Krach im Elternhaus noch mit Anteilnahme folgt, zieht bald ein zunehmend larmoyanter Ton in das Romanwerk ein: Für A ist das Glas nie halb voll, sondern immer halb leer. Je älter sie wird, um so mehr besteht sie darauf, sich zu den Erniedrigten und Beleidigten zählen zu dürfen. Elke Schmitter fand diesen permanenten Sozialbetroffenheitsgestus im Spiegel passend für „die Begründung eines Urteils, das von Anfang an feststeht“. 

Doch von Verurteilungen, einem „sozialistischen Literaturverständnis“ gar, das literarische Werke als Vehikel für gesellschaftliche Veränderungen, etwa ein faireres Bildungssystem, betrachtet, will die Autorin nichts wissen. Schließlich hat sie in „Streulicht“ ein Stück weit auch ihre eigene Lebensgeschichte verarbeitet. Und die führte nicht in eine Frankfurter Hochhaus-Putzkolonne, sondern auf die Frankfurter Buchmesse. Ohde gewann den Deutschen Buchpreis zwar nicht (JF 47/20), konnte sich aber mit dem Aspekte-Literaturpreis trösten. So schlecht können die Aufstiegschancen einer jungen Frau mit Migrations- und Industrieparkhintergrund also nicht sein.

Deniz Ohde: Streulicht. Roman. Suhrkamp, Berlin 2020, gebunden, 284 Seiten, 22 Euro