© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

Menschheit ist im Kapitalismus stets Kundschaft
Digitalisierte Hörigkeit
(ob)

In der Debatte um die Vor- und Nachteile des Lebens in einer „digitalisierten Gesellschaft“ melden sich auch zwei halb Vergessene zu Wort: Karl Marx und Theodor W. Adorno. Marx hatte um 1850 über die Anfänge jener Automatisierung der Produktionsprozesse nachgedacht, die gegenwärtig ihrer digitalen Vollendung entgegenreifen sollen. Ihm zufolge könnte dieser technische Fortschritt die zur Selbsterhaltung erforderliche Arbeit im „Reich der Notwendigkeit“ soweit reduzieren, daß das „Reich der Freiheit“ Platz greife und der Mensch das Stadium der „Verdinglichung“ hinter sich lasse, um seine „genuin menschliche Kraft“ zu entfalten. Ob Silicon Valleys Visionen von Fabriken, in denen Computer alle Arbeiter ersetzen, ein solches „befreiendes Potential der Digitalisierung“ tatsächlich entfesseln werden, daran zweifelt der Adorno-Interpret Sebastian Lübcke. Dagegen spreche, was Marx bereits befürchtete und was dem desillusionierten Begründer der „Kritischen Theorie“ aufgrund tiefer Einsichten in die „Dialektik der Aufklärung“ gewiß war: Solange die Produktionsmittel in den Händen des Kapitals lägen, würden sie auch dann der Unterdrückung, nicht der Befreiung der Menschheit dienen, wenn der Stand der Technik dies erlaubte. Die aus „Agenten und Trägern des Warenaustausches“ bestehende Menschheit bleibt für Adorno daher primär „Kundschaft“. Deren Gefügigkeit manipulativ zu sichern, deren Arbeitsfähigkeit qua „Amüsement“ zu regenerieren, sei heute mehr denn je Aufgabe der „Kulturindustrie“ und der für „systemkonforme Empörungen“ zuständigen „Warenmarke ‘kritischer Intellektueller’“ (Weimarer Beiträge, 2/2020). 


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