© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

Ein symbolischer Akt spaltet die Nation
Willy Brandts Kniefall vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos symbolisierte die Neue Ostpolitik / Harsche Proteste von Opposition und Heimatvertriebenen
MIchael Dienstbier

Durfte Brandt knien?“ fragte der Spiegel auf der Titelseite seiner Ausgabe vom 14. Dezember 1970. Sie zeigte das genau eine Woche zuvor in der polnischen Hauptstadt aufgenommene, zur Ikone gewordene Bild des in sich versunkenen Bundeskanzlers vor dem Mahnmal der Opfer des Aufstands 1943 im Warschauer Ghetto. Die vom „im Zweifel links“ (Rudolf Augstein) stehenden Hamburger Magazin in Auftrag gegebene Umfrage verdeutlichte die Spaltung des bundesdeutschen Volkes zu dieser Zeit: 41 Prozent antworteten mit Ja, 48 Prozent mit Nein. Auch die Reaktionen im Ausland verliefen anhand ideologischer Frontlinien des Kalten Krieges und waren mitnichten einhellig positiv.

Polnische Medien blendeten  Brandts Geste völlig aus

Die von der 1969 ins Amt gewählten sozialliberalen Koalition umgesetzte „Neue Ostpolitik“ basierte auf der von Egon Bahr geprägten „Wandel durch Annäherung“-Doktrin. Der Status quo werde akzeptiert, um ihn langfristig überwinden zu können, so die Konzeption der damaligen Regierung. Dies konkretisierte sich in den Ostverträgen mit der Sowjetunion und Polen 1970 und führte 1972 im Grundlagenvertrag mit der DDR zu deren völkerrechtlichen Anerkennung seitens der Bundesrepublik. Bereits im August 1970 unterzeichnete Brandt in der Sowjetunion den Moskauer Vertrag, in dem beide Seiten bestehende Grenzen akzeptierten und sich zum Gewaltverzicht bekannten. 

Daß für die Polen das vier Monate später im Warschauer Vertrag erfolgte deutsche Bekenntnis zur Oder-Neiße-Grenze von besonderer Bedeutung war, versteht sich von selbst, auch wenn diese erst im Rahmen eines Friedenvertrages völkerrechtlich wirksam werden sollte. Polnische Medien berichteten detailliert über diesen Aspekt, verloren jedoch kein Wort über Brandts Kniefall. Auch sei er von keinem polnischen Offiziellen auf seine Geste angesprochen worden, erinnerte sich Brandt in seinen Memoiren. Der Grund: Jenseits des Eisernen Vorhanges wollte man auf das nützliche Feindbild des „bösen Deutschen“ nicht verzichten, wozu Brandts Geste der Reue nicht paßte. Auch nahmen die Polen daran Anstoß, daß er zwar der jüdischen Opfer des Ghettoaufstands von 1943 gedachte, die Opfer des 1944-Aufstands der polnischen Heimatarmee damit jedoch überging.

Ganz anders die Reaktionen im Westen. Das US-amerikanische Magazin Time kürte den Kanzler 1970 zum „Man of the Year“, und ein Jahr später erhielt er gar den Friedensnobelpreis. So einig man sich in Ablehnung und Zustimmung auf internationaler Bühne war, so feindlich standen sich die Lager in der Bundesrepublik gegenüber. „Ausverkauf deutscher Interessen“, schimpfte die CDU/CSU-Opposition und strengte 1972 ein konstruktives Mißtrauensvotum gegen Brandt an. Die von Beginn an knappe Mehrheit von nur zwölf Stimmen drohte endgültig zu schwinden, als in der Auseinandersetzung um die Ratifizierung der Ostverträge SPD- und FDP-Abgeordnete zur Union übertraten, darunter der ehemalige Minister für gesamtdeutsche Fragen, Erich Mende (FDP), sowie der sozialdemokratische Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Herbert Hupka. Das Mißtrauensvotum am 27. April 1972 überstand der Kanzler mit nur zwei Stimmen Mehrheit – wie man heute weiß, waren zwei Unions-Abgeordnete von der Stasi gekauft. 

Ostvertriebene sahen sich um ihre Heimat betrogen

Bei den zahlreichen Demonstrationen war „Volksverräter“ noch einer der harmloseren Begriffe. Gerade für die Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten markierten die Ostverträge eine Zäsur, bedeuteten sie im Grunde nichts anderes als den endgültigen Verlust ihrer alten Heimat. Als Kollateralschaden der „Neuen Ostpolitik“ hatten sie nun keine Möglichkeit mehr, das an ihnen ab 1945 begangene Unrecht anerkannt und kompensiert zu bekommen. Doch die Stimmung im Volk drehte sich schnell. 1972 zeigten sich 82 Prozent einverstanden mit Brandts Ostpolitik, und die Bundestagswahlen im selben Jahr gewann die SPD mit 45,8 Prozent, bis heute Rekordergebnis der Partei auf Bundesebene.

Bis zum heutigen Tag scheiden sich die Geister an der Frage, ob der Kniefall spontaner Einfall oder bewußte Inszenierung zur besseren Vermarktung einer umstrittenen Politik war. Gegner Brandts unterstellten ihm Kalkül, sein Umfeld beteuerte die aus der Emotionalität des Moments resultierende Spontaneität der Geste. Dafür spricht die durchaus zur Sentimentalität neigende Persönlichkeit Brandts, der, in den legendären Worten des damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner, gerne „lau badet“. Was bleibt, ist ein Bild, das, längst aus seinem ursprünglichen Kontext gelöst, das symbolisiert, was im heutigen Neusprech als das „helle Deutschland“ fungiert.